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Meine absolute Lieblingsschriftstellerin des letzten Jahres, Alena Mornštajnová, hat heuer wieder einen neuen Roman in deutscher Sprache veröffentlicht. Nun drängt sich der Vergleich zwischen Hana aus 2020 und Stille Jahre aus 2021 zwangsläufig auf, und ich muss sagen, dass mir der Roman vom letzten Jahr besser gefallen hat, was aber auch klar war, denn Hana hat sich bei mir mit gefühlten 10 von 5 möglichen Sternen in mein Lesegedächtnis nachhaltig eingebrannt. Nichtsdestotrotz verdient Stille Jahre noch immer die Bestnote, denn das Buch ist um Klassen besser als viele andere Romane. Die Autorin verwebt wie üblich meisterhaft Menschenschicksale mit Geschichte und vor allem mit Politik und konzentriert sich nun in dieser Story nicht auf die Ära des Nationalsozialismus, sondern auf den Kommunismus in der Tschechoslowakei. Beobachtet wird eine einzelne Familie, die durch die Politik und die unterschiedlichen Ansichten schlicht und ergreifend auseinandergerissen wird. Dabei muss ich aber meine sehr passive Aussage des letzten Satzes relativieren, denn es geht nicht nur um die äußeren Einflüsse, sondern natürlich auch um eigene Schuld einzelner Mitglieder, die aus Sturheit und Egoismus keine Kompromisse in ihren Ansichten eingehen. Durch den Fall des eisernen Vorhangs werden die Karten neu gemischt, potenziell könnte eine Annäherung wieder stattfinden, wäre da nicht so viel Eigensinn, auf den persönlichen Positionen beharren zu müssen, Groll und vor allem wahnsinnig viel Vertuschung und Verdrängung. Die Handlung beginnt in der Gegenwart mit dem Mädchen Bodhana, das sehr an ihrer dysfunktionalen Familie leidet. Der Vater Svatopluk redet nicht mit ihr, hat er noch nie getan. Die Stiefmutter Bela ist sehr liebevoll, wird von Svatopluk aber ständig abgewertet und angepöbelt. Wenn der ewig schlecht gelaunte Patriarch zu Hause weilt, herrscht eine wabernd bedrohliche Stimmung, alle huschen nur möglichst keinen Lärm verursachend durch die Zimmer. Bodhana kennt außer ihrem Vater und der Stiefmutter kein anderes Mitglied ihrer Familie. Als Svatopluk sie eines Tages zur sterbenden Großmutter mitnimmt, die sie noch nie gesehen hat, wird sie von der alten, kranken Frau mit dem völlig unbekannten Namen Blanka angesprochen. Auf Nachfrage nach dieser Person bekommt sie keine Antwort, weder vom Vater, was zu erwarten war, noch von der Stiefmutter, die sich offensichtlich fürchtet, Familiengeheimnisse aufzudecken. An diesem Punkt beschließt Bodhana eine Erinnerungssammlerin zu werden, die Geheimnisse ihrer Familie zu erforschen und zu dokumentieren. In wechselnden Kapiteln wird die Geschichte vom Vater und der Tochter geschildert, wobei die Handlungsstränge in den Vater-Kapiteln in der Vergangenheit zu Zeiten des Kommunismus starten und die von Bodhana lange nach der Wende einsetzen. Svatopluk hat sein ganzes Leben den kommunistischen Idealen gewidmet und den tschechischen Staat nach dem Krieg mit aufgebaut. Auf Grund seiner politischen Verdienste hat er auch eine veritable Karriere hingelegt, sitzt aber jetzt in der Gegenwart als verbitterter alter Mann herum. Was zwischenzeitlich passiert ist, wird schrittweise aufgedeckt. Der sozialistische Arbeiter aus der Unterschicht, der aufgestiegen ist, hat sich irgendwann durch seine Musikpassion in das höhere Töchterlein Eva unsterblich verliebt, die eigentlich eine Karriere als Pianistin anstrebte. Obwohl beide so unterschiedlich sind, und die Familien auch nicht miteinander können, sind sie einander innig zugetan, respektieren die unterschiedlichen Ansichten des anderen, kommunizieren auf Augenhöhe, sehen die Unterschiede als Bereicherung und führen eine sehr gute Ehe. Für Eva als Frau eines wichtigen Parteiführers ist eine Karriere als Konzertpianistin nicht schicklich, denn der bourgeoise Zeitvertreib des Klavierspielens passt so gar nicht in das Konzept des Arbeiter- und Bauernstaates. Also konzentriert sich Eva auf ihre Pflichten als Ehefrau und fügt sich in die Rolle der Mutter. Dabei projiziert sie alle Hoffnungen auf die begabte Tochter Blanka. Mittlerweile hat Bodhana in der Gegenwart versucht, alle Personen zu recherchieren, die sie auf einem alten Hochzeitsfoto gefunden hat. Irgendwann findet sie einen Feind ihres Vaters, der aber auch nicht mit ihr sprechen möchte und ihre Tante, die inzwischen ebenso wie die Großmutter gestorben ist. Bodhana weiß, dass ihr Vater ein Geheimnis verbirgt, denn alle seine früheren Kontakte sind wie mit einem Skalpell von der Gegenwart abgetrennt. Nach und nach kommen im Vater-Erzählstrang die Dramen und die Fehler der Vergangenheit ans Tageslicht. Als Blanka erwachsen wird, herrscht in der Tschechoslowakei die Aufbruchsstimmung des Prager Frühlings und das Mädchen rebelliert im normalen Rahmen gegen die Ideologie und die Regeln des Vaters. Dabei begeht sie im jugendlichen Leichtsinn und aus Egoismus einen fatalen Fehler, der nicht nur ihr Leben verändert, sondern auch die Karriere ihres Vaters nachhaltig zerstört. Blankas Schuld ist so gravierend, dass sie sich in den Westen absetzen und dann natürlich aus politischer Räson totgeschwiegen werden muss. Als braver Parteisoldat reißt sich der Vater die geliebte Tochter regelrecht aus dem Herzen und erwähnt sie nie wieder. Allmählich nähern sich die zwei Erzählstränge von Swatopluk und Bodhana einander an, dieses Handlungsgeflecht wurde von der Autorin derart meisterhaft in den Plot eingewebt, dass es eine Freude ist, höchste Kunst der Dramaturgie, einen extrem interessanten Spannungsbogen zu schaffen, der erst nach und nach alles enthüllt, ohne jedoch in irgendeiner Szene bei der Leserschaft Verwirrung zu stiften. Bodhana kämpft nicht mehr um die Aufmerksamkeit des Vaters, sondern sie ruht zufrieden in sich selbst. Sie ist vom verschreckten Mauerblümchen zu einer gefestigten Frau herangewachsen, die noch immer als Chronistin der Familie alles aufschreibt, was sie herausgefunden hat. Mittlerweile hat sie ihre große Liebe Martin kennengelernt, den der Vater erstaunlicherweise sehr gerne mag. Als die Hochzeit über die Bühne gegangen ist, verlässt die Stiefmutter Bela die Familie, denn sie hat all die Herabwürdigungen nur aus Liebe und Sorge um Bodhana ausgehalten, nun muss sie nicht mehr als Puffer fungieren. Nach einem Schlaganfall von Svatopluk kommen sich Bodhana und der Vater erstmals in ihrem Leben näher. Am Ende werden alle Geheimnisse der Vergangenheit aufgedeckt und das Happy End gibt Hoffnung, dass der verbohrte alte Bock noch ein paar Jahre im Glück leben kann. Ich kann es kaum beschreiben, wie ausnehmend grandios die Autorin in ihrem Werk immer wieder persönliche Schicksale mit den Wirren der Politik zu verweben vermag, und wie genial die Plotkonstruktion gestaltet ist. Ich weiß, dass ich sie nun vielleicht in zu große Fußstapfen hineinstoße, aber irgendwie erinnert mich die Konzeption ihrer Familiengeschichten schon frappant an meinen absoluten Lieblingsschriftsteller Joseph Roth in seinem Roman Radetzkymarsch, der für mich nicht nur ein Jahrhundertwerk darstellt, sondern für die Bestenliste der Ewigkeit gemacht ist. Die Figuren sind selbstverständlich ausnehmend tief, glaubwürdig und gut konzipiert auch hier gibt es nichts zu kritisieren, ebenso wenig wie bei der Fabulierkunst der Autorin. Fazit: Absolute Leseempfehlung für diesen Roman. Wenn Ihr eine tschechische Autorin kennenlernen und lesen wollt, dann wählt Alena Mornštajnová.