awogfli
Wow! Diese Autobiografie hat mich total vom Hocker gerissen und begeistert, wobei ich gestehen muss, dass ich ob der grandiosen Erzähl- und Sprachfabulierkunst und durch den sensationell gestalteten Plot eine Weile tatsächlich gedacht habe, dass es sich bei diesem Werk um einen teilweise fiktiven Roman handeln müsste. Irgendwann dämmerte mir natürlich, dass die mit Kosenamen versehenen Figuren auch in der Realität tatsächlich gelebt haben, beziehungsweise leben und das turbulente politische und gesellschaftliche Leben von Sisonke Msimang und ihrer gesamten Familie genauso wie beschrieben stattgefunden hat. Sisonkes Vater war im bewaffneten Flügel des ANC (Afrikanischer Nationalkongress) tätig und dort im Untergrund auf der Flucht als Kämpfer gegen die Apartheid aktiv. Er war gut bekannt mit den Mandelas und befreundet mit Chris Hani, dessen Ermordung Südafrika kurz vor der Abschaffung der Apartheit fast an den Rand eines Bürgerkrieges gebracht hat, hätte Nelson Mandela in seiner Rede nicht eingegriffen und das Volk beschwichtigt. Die Autobiografie ist aber nicht nur eine Geschichte der politischen und gesellschaftlichen Selbstbestimmung der Schwarzen Afrikas, sondern sie umfasst zudem auch noch die persönliche Entwicklung von Sisonke Msimang, das Ringen um Emanzipation, den Kampf gegen Rassismus und für weibliche Selbstbestimmung vom kleinen Kind im Exil über ihre Ausbildungsjahre in Kanada und Amerika bis zur erwachsenen Frau, die endlich in ihre Heimat nach Südafrika zurückkehren kann. Dabei spart die Autorin weder mit brillanten gesellschaftlichen und politischen Analysen noch mit Kritik und Selbstkritik, wenn sie sich durch ihren kämpferischen Charakter hin und wieder im Eifer des Gefechts verrannt, oder auf die falschen Vorbilder gesetzt hat. Irgendwie kann man in diesem Buch gleichzeitig einem ganzen Land als auch dem Menschen Sisonke beim Kampf um Autonomie zusehen. Von Beginn an präsentiert sich der Plot spannend, aufwühlend, teilweise grausam und gewalttätig mit genialen Analysen. Die Protagonistin, noch ein kleines Mädchen, zeigt deutlich, wie von Beginn an Geschlechterstereotype und Frauenfeindlichkeit auch von Frauen weitergegeben werden. Eine „Auntie“ aus Deutschland, die im sehr offen geführten Freiheitskämpfer-Haushalt der Msimangs in Sambia zu Besuch ist, wird von den Kids beim Sex erwischt. Sie haben bereits folgendes von den Erwachsenen gelernt: Da sie am Sex Freude gezeigt hat ist sie eine Nutte, sonst natürlich nicht. Mehr und mehr begeisterte mich diese Geschichte voller Entwurzelung, durch die unzähligen Umzüge von Land zu Land, von Exil zu Exil (Swasiland, Sambia, Kenia, Kanada, USA …), mit vielen Kulturschocks für die Kinder. Der Titel Und immer wieder Aufbrechen ist sehr gut gewählt und zeigt einerseits die Probleme Sisonkes in der Kindheit und Jugend, nie wirklich irgendwo Fuß fassen zu können und keine Heimat zu haben, ist aber andererseits auch ein positives Fanal, immer wieder aufzubrechen und neue Entwicklungen voranzutreiben, sich also nicht auf den Lorbeeren auszuruhen. Die Eltern von Sisonke und die Freunde, die im Haushalt ein und aus gehen, sind selbstbewusste Afrikaner der Mittelschicht, quasi die im Exil lebenden Freiheitskämpfer der Anti-Kolonial-Generation Südafrikas. Dieses Selbstverständnis gilt aber nicht wirklich für die Frauen, denn traditionelle Geschlechtermuster, Gewalt, Kindesmissbrauch und Vergewaltigung sind noch immer an der Tagesordnung, was auch Sisonke am eigenen Leib zu spüren bekommt, als sie von einem Hausangestellten missbraucht wird. Täglich erleben Frauen den Spagat zwischen Emanzipation und Unterwerfung. "Die Wortwahl bestimmter schwarzer Männer – die Art wie sie ihre Wut zum Ausdruck bringen – ist ungemein verführerisch. Ich ignoriere die Tatsache, dass ihr Schwarzsein nur wenig Raum für mein Frausein lässt." Diese geniale Analyse der jungen Sisonke während ihres Studiums bringt die Gesamtsituation von schwarzen Frauen in einem Satz auf den Punkt. Nach der Schulzeit in Kanada, einem Zwischenstopp in Nairobi und der Trennung von ihrer Familie durch das Studium in den USA (Minnesota) hat sich Sisonke zu einer kämpferischen jungen Frau entwickelt, die gegen die Eltern rebelliert, erneut einen Kulturschock erleidet, erstmals mit dem völlig anders gearteten Rassismus und den üblichen Problemen einer jungen Frau in Amerika konfrontiert ist. All die Probleme muss sie nun völlig auf sich allein gestellt meistern. "Er redet ohne Punkt und Komma, bis wir den grauen Minivan mit dem Logo des Colleges erreicht haben. Auch während der Fahrt in die Stadt redet er ununterbrochen. Seine schiere Freundlichkeit überwältigt mich. Ich fühle mich wie ein allergieanfälliges Kind, das von einem freundlichen Labrador angesprungen wird." " … und ich bin nicht sicher, ob ich ihr die Wahrheit sagen kann, dass Amerika so ist wie Kenia, Kenia wie Kanada und Kanada wie Sambia, was bedeutet, es gibt keinen einzigen Ort auf der Welt wo irgendeine von uns sicher ist, weil Amerika – die Heimat der Tapferen und das Land der Freien – mir gerade bewiesen hat, dass auf dich, wenn du ein Mädchen bist, an jeder Ecke Ärger wartet und du nie weißt, wie er aussehen wird." In Minnesota stürzt Sisonke sich auch in die erste sehr innige Beziehung mit einem Mann, die leider sehr von der toxischen Art ist, denn ihr Freund ist bipolar und total egoistisch. Nach dem Ende ihrer Studienzeit und dem Ende der unglücklichen Beziehung, hat sie plötzlich die Möglichkeit, in ihre Heimat Südafrika zurückzukehren und ihre Staatenlosigkeit zu beenden. Die Apartheit liegt in den letzten Zügen. "Der Tag selbst ist sowohl ein Höhepunkt als auch eine Enttäuschung. Einerseits ist da die Freude, der Jubel und die Feierlichkeiten. Andererseits gibt es ein kaum hörbares Geräusch. Es ist die Apartheit, aus der mit einem Zischen die Luft entweicht. Urplötzlich hat die Apartheit ihre gespenstische Kraft verloren. […] Dieser nächtliche Reiter, der uns so lange terrorisiert hat, ist bloßgestellt worden: als kleiner Junge in einem wallenden Laken mit ausgeschnittenen Augenlöchern." Nach Südafrika zurückgekehrt, ist die Familie Msimang endlich wieder vereint. Sisonke hilft mit, den neuen Staat aufzubauen, indem sie bei NGOs arbeitet. Da verliebt sie sich ausgerechnet unsterblich in einen Arbeitskollegen, einen Weißen, und trennt sich von ihm, weil er weiß ist. Was für eine sensationelle Wendung in ihrem Leben, denn hier schlägt der Rassismus mal von der anderen Seite komplett unvermutet zu. Ihre Familie hilft ihr aber aktiv, diesen Fehler zu revidieren und so heiratet sie Simon, den weißen Australier und führt fortan eine sehr glückliche Beziehung. Nun wird sie als Mutter, gut situierte Mittelklassefrau, Haushaltsvorsteherin und vielbeschäftigte Geschäftsführerin einer NGO selbst zu einer Chefin von Dienstboten der Unterschicht, denen sie misstraut. Als sie vorübergehend nach Yale geht, wird sie durch eigene Managementfehler und durch eine Intrige diskreditiert und muss ihren Job aufgeben. Sisonke geht aber nicht nur mit sich selbst und ihren Fehlern hart ins Gericht, sie spart auch nicht mit harscher Kritik am neuen südafrikanischen Staat und seinen Vertretern. Nach und nach ist sie vom ANC enttäuscht, und bemerkt, wie die neu gewonnene enorme Machtfülle die ehemaligen Freiheitskämpfer und Helden ihrer Kindheit korrumpiert. Sie kann nicht fassen, wie instinktlos, überheblich und ignorierend falsch die schwarzen Politiker die AIDS-Krise managen und Staat bzw. Bevölkerung an die Wand fahren. Die Armut und die daraus resultierende Gewalt, die die Regierung nicht in den Griff bekommt, ist nicht nur ein politisches Problem, sondern auch ein Umstand, von der die neue Familie Sisonkes permanent persönlich betroffen ist. Sie fühlen sich nicht mehr sicher. Als ihre Mutter stirbt, verliert Sisonke ihren Anker, ihre eigentliche persönliche Heimat und die Reise geht weiter… Sprachlich fand ich die Autobiografie großartig, wortgewaltig und bildhaft formuliert wie ein richtiger Roman. Die Figuren sind sehr detailliert und privat beschrieben, sie weisen durch ihre Spitznamen wie Auntie und Uncle kombiniert mit dem jeweiligen Vornamen einerseits ein bisschen den Inkognito-Charakter von fiktiven Figuren auf und andererseits nervt die Autorin nicht mit massivem Namedropping von berühmten Persönlichkeiten. Sie werden dadurch viel begreifbarer, man kann sich intimer mit ihnen auseinandersetzen und sich besser mit ihnen identifizieren. Leider bin ich in meinem Vorabexemplar über ein paar Orthographiefehler gestolpert, was aber möglicherweise in der Buchmarktversion dann noch lektoriert wurde. Fazit: Ich bin total hingerissen! Wenn Ihr ein aktuelles, politisches, sehr persönliches und ehrliches Buch über afrikanische Identität und Emanzipation lesen wollt, dann nehmt auf jeden Fall dieses.