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evaczyk

Posted on 12.8.2021

Entscheidung fürs Leben Die meisten lebensverändernden Entscheidungen werden gerne überschlafen, reiflich überlegt und abgewogen, vielleicht noch mit anderen diskutiert, deren Meinung einem wichtig ist. Nicht so in Robert Krauses "Dreieinhalb Stunden". Den Protagonisten dieses Episodenromans fährt die Zeit buchstäblich davon. Sie sind Passagiere im Interzonenzug, der sich am 13. August 1961 von München nach Berlin in Bewegung setzt. Ein, wie wir heute wissen, historisches Datum, das für den Bau der Berliner Mauer und die Abriegelung der DDR steht. Erst sind es nur Gerüchte, dann überschlagen sich die Berichte im Radio, und auch im Zug verbreitet sich die Nachricht, die Ängste auslöst: Wird es nun nie wieder einen Weg in den Westen geben? Ist das die Antwort des Staates auf die Menschen, die der DDR den Rücken gekehrt haben. Und die Reisenden aus der DDR haben dreieinhalb Stunden Zeit, um zu einer lebensverändernden Entscheidung zu kommen: Bleiben oder gehen? Zurück in das Bekannte, oder an einem der drei verbleibenden Bahnhöfe im Westen den Zug verlassen, eine ungewisse Zukunft wählen und Freunde und Familie zurücklassen? Für manche ist die Entscheidung sofort klar, andere quälen sich, sind hin- und hergerissen. Familien drohen zu zerbrechen, Freundschaften auseinander zu gehen. Allen ist klar - wie immer sie sich entscheiden, es wird ihr ganzes weiteres Leben beeinflussen. Tanja Fornaro und Robert Frank geben den Menschen im Zug eine Stimme und angesichts der zahlreichen Personen, um die es hier geht, macht diese Aufteilung auf zwei Sprecher viel Sinn. So wie die Stimmen wechseln auch die Szenen in den Abteilen, aber auch im DDR-Eisenbahndepot, wo eine junge Lokführerin sich darauf vorbereitet, den Zug zu unternehmen und in Berlin, wo ein Beamter der Volkspolizei bangt, ob seine Tochter die Loyalität zu ihm und zum Staat über die Liebe zu ihrem Mann stellen wird, der sich in der DDR auf dem Abstellgleis sieht. Das alternde Ehepaar, dessen Sohn in den Westen geflohen ist, die Musiker, die von der großen Freiheit träumen, die Patchworkfamilie, die Tochter des Offiziers, eine junge Leistungssportlerin und ihre Trainerin, sie alle stehen vor einer Weichenstellung für den Rest ihres Lebens. Der Autor konzentriert sich auf das Menschliche und Zwischenmenschliche, Lageberichte stehen für den historischen Hintergrund. Doch die Reaktionen des damaligen Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt oder der Alliierten sind eher Nebensache angesichts des Dilemmas der Menschen im Zug. Mit jeder Station, mit jeder neuen Zeitangabe wächst der Druck, bis von den dreieinhalb Stunden kaum noch etwas übrig ist. Das ist sowohl rasant als auch für die Betroffenen quälend: Welche Entscheidung ist die Richtige? Als Leser beziehungsweise Hörer fiebert man mit, ahnt bei manchem den Entschluss, täuscht sich bei anderen und weiß im Rückblick ja genau, dass alle Hoffnungen, die Grenze könnte nur vorübergehend geschlossen sein, jahrzehntelang vergeblich waren. Das ist gute und spannende historische Unterhaltung, ohne Kitsch und Vergangenheitsverklärung. Auch jüngere Menschen, die keine persönlichen Erinnerungen an die deutsche Teilung haben, können sich mit diesem Roman sicher besser vorstellen, was die Grenze für Familien und Freunde bedeutete, die plötzlich in Ost und West aufgeteilt waren.

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