evaczyk
Wenn das mal kein Kulturschock ist: als stoischer Norddeutscher, der nur unter der Dusche oder im Meer weinen kann, auf der Karibikinsel Jamaica. In Carsten Sebastian Henns Mischung aus Küsten- und Karibik-Krimi bricht der Flensburger Martin Störtebecker (nicht verwandt mit dem berühmten Piraten, was er schon ein bißchen bedauert) mit seinen nicht mehr ganz taufrischen 72 Jahren auf. Er erfüllt den letzten Auftrag seines vor kurzem gestorbenen besten Freundes, und so richtig doll sind auch die eigenen Lebensaussichten nicht mehr, wie er nach seinem letzten Check-Up weiß. Also höchste Zeit, doch noch herauszufinden, was mit seinem jüngeren Bruder Christian geschah, der vor 20 Jahren nach Jamaica ging, um vor Ort alles über die Herstellung des bestmöglichen Rum zu lernen. Doch dann gab es keinerlei Lebenszeichen mehr. Die Leidenschaft für Rum, das haben die Brüder gemeinsam. Und dank Christians Begeisterung für Reggae Musik spricht Martin Englisch mit jamaicanischem Akzent, gelernt von der Plattensammlung des Bruders. Für einen wie Martin - ein alter Junggeselle, dem Alkohol nicht abgeneigt, seit Jahrzehntem mit dem gleichen kleinen Freundeskreis und als Anbieter von Piratengeburtstagen für Kinder in Flensburg als eher skurrile Gestalt belächelt, ist die Reise ein Weg weit außerhalb der eigenen Komfortzone. Wie gut, dass er dabei gleich am Flughafen die junge hübsche und ausgesprochen energische Taxifahrerin Babe trifft, die ihn als seine persönliche Fahrerin zu den Rumdestillerien kutschiert, auf denen sein Bruder einst gearbeitet hat. Erst nach und nach wird Martin klar, dass die Begegnung am Flughafen kein Zufall war und Babe ebenfalls eine Mission verfolgt. Deutlich früher findet er heraus, dass er mit den Fragen nach seinem Bruder eine Vergangenheit aufreißt, die viele vergessen wollen. Dabei ist es schon schlimm genug, dass er auf eine Leiche stößt, die ausgerechnet seine gute alte Kapitänsmütze in der Hand hält. Auch er selbst scheint in das Visier des unbekannten Mörders zu geraten, während die jamaicanische Polizistin Joanna Martin ganz oben auf die Liste ihrer Verdächtigen setzt. Davon abgesehen, ist Martin von der Ermittlerin höchst angetan - doch wird es das zurückhaltende Nordlicht schaffen, über den eigenen Schatten zu springen? Kulturelle Stereotypen werden in diesem bei allen Leichen auch unterhaltsamen Kriminalroman liebevoll ausgereizt. Dabei zeichnet der Autor seine exzentrisch-verschrobenen Protagonisten mit viel Sympathie und lässt vor allem Martin eine Wandlung durchmachen, die für den Norddeutschen geradezu revolutionär ist. In die Handlung eingeschoben sind Zwischenkapitel zur Geschichte des Rums, seiner Herstellung, der verschiedenen Arten, Rumcocktails und vielem anderen mehr. Wer sich für den gastro-literarischen Teil interessiert, findet eine Menge Informationen, und wer lieber wissen will, was als nächstes passiert, kann diese Kapitel einfach überblättern und vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal nachlesen. Dieser Küstenkrimi lebt von den Kontrasten zwischen Schleswig-Holstein und Jamaica und ist bei aller Spannung irgendwie auch ein Appell für Toleranz und ein Auskommen über alle Kulturschranken hinweg. Da hat denn auch der Rum eine völkerverbindende Wirkung.