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awogfli

Posted on 26.7.2021

Ich lese ja, seitdem ich lesen kann, leidenschaftlich gerne jüdische Literatur aus allen Zeitaltern, habe im Alter von 10 Jahren mit Kishon begonnen, mich über das Gesamt-Oeuvre Schnitzlers, Roths, Zweigs und ein bisschen Musil, Kafka und Torberg bis zu den modernen, zeitgenössischen jüdischen Romanen, Geschichten und Biografien hochgehandelt. Insofern war und ist es mir natürlich auch ein Anliegen, sehr viel über das moderne jüdische Leben in Wien zu erfahren, wie es in diesem Buch angekündigt wird. Leider lässt mich dieses Werk mit arg gemischten Gefühlen zurück, denn die Autorin pöbelt in einigen Bereichen grauslich polemisch und total undifferenziert gegen säkuläre, nicht-jüdische Positionen, ohne sie irgendwie jemals zu analysieren, beziehungsweise zu hinterfragen und packt tatsächlich in einigen Bereichen komplett sinnlos eine Antisemitismuskeule aus, wo sie beileibe nicht hingehört, dass manchen Menschen, die nicht aus antisemitischen sondern aus differenzierten Menschenrechtspositionen andere Standpunkte vertreten, wirklich die Grausbirnen aufsteigen mögen. Geht Alexia Weiss beim jüdischen Thema Schächten noch mit Augenmaß vor, und kann verstehen, dass die kategorische Ablehnung des Schächtens nicht nur antisemitische Gründe haben kann, sondern auch Vegetarier- beziehungsweise Vegane-Positionen die Ursache sein können – kein Wunder hier kann sie sich noch hineinversetzen, denn irgendwann am Ende des Buches kommt heraus, dass auch die Autorin Veganerin ist – so schaut diese ausgewogene Sicht bei anderen Themen leider zappenduster aus. Das geht so weit, dass sie alle anderen Positionen gegen jüdische Politik und Regeln sofort mit einem Totschlagargument als Antisemitismus kategorisiert. So a la „Bist Du nicht für meine tiefreligiösen Traditionen, und die israelische Politik, bist du zwangsläufig Antisemit.“ Ich spreche hier nicht davon, dass sie Antisemitismus verstehen soll, ich bin die erste, die so etwas anprangert, aber es gibt auch andere Gründe als Antisemitismus, jüdische Traditionen, jüdische Politik oder Taten von Juden zu kritisieren. Das fängt bei ihrer Position zur Beschneidung an: Alle, die prinzipiell gegen Beschneidung von Babys und Kindern sind, haben antisemitische Gründe, dies abzulehnen, sonst gibt es keine Gründe. Punkt. Meine Güte, da schüttelt es mich und es treibt mir die Tränen in die Augen. In Anbetracht der Tatsache, was jungen Mädchen im Namen der Tradition und Religion in Afrika angetan wird, kann man auch prinzipiell und konsequent gegen jegliche nicht-medizinisch notwendigen Eingriffe von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren sein, ohne jemals einen einzigen antisemitischen Gedanken gehegt zu haben. Was hat sich die Autorin dabei gedacht, konsequent gegen operative Körperverletzung von Unmündigen zu sein, ist nicht nur ein Standpunkt von rechtem oder linkem Antisemitismus, sondern kann durchaus auch ein Standpunkt von Menschenrechten sein. Zu dieser Körperverletzung zählen dann auch übrigens Tattoos, Nasenkorrekturen, Brustvergrößerungen von Minderjährigen und Geschlechtsangleichungen im Babyalter. Die Regel dieser Menschenrechtsaktivisten ist, dass sie nicht gegen Wissen und Willen des Kindes körperverändernde Maßnahmen treffen und dem Kind erst nach der Volljährigkeit oder dem Vollbesitz einer Entscheidungsfähigkeit (bei Geschlechtsangleichungen sollte das dann passieren, wenn das Kind entschieden hat) den Körper ganz übergeben, es sei denn, irgendwelche medizinischen Notwendigkeiten hätten einen Eingriff erfordert. Und weil wir gleich dabei sind, es ist wissenschaftlich erwiesen, dass auch die Beschneidung von männlichen Babys sich selbstverständlich ebenso auf die Libido auswirkt. Man kann natürlich gern darüber diskutieren, ob dieser Libidoverlust, der sich durch die langsamere Ejakulation auszeichnet, in jungen Jahren eh gewollt ist, aber er ist tatsächlich vorhanden und sollte halt von einem mündigen Wesen entschieden werden. Weiss argumentiert übrigens vor allem mit dem nicht vorhandenen Einfluss auf die Zeugungsfähigkeit, mit diesem Argument kann man aber übrigens auch für Frauenbeschneidungen agitieren. So undifferenziert und mit zweierlei Maß messend geht es bedauerlicherweise munter seitens der Autorin weiter. Die Kritik eines Nicht-Juden und das Ansprechen von jüdischen Österreichern bezüglich der israelischen Palästinenserpolitik wird von Alexia Weiss ganz prinzipiell mit dem Argument abgewiegelt, dass sie nichts persönlich mit der israelischen Politik zu tun hat und darauf auch nicht reflektieren und antworten will, weil es sie nichts angeht. Auch solche Fragen und Diskussionen bezeichnet sie prinzipiell als Antisemitismus. Schon komisch, wenn man im Gegenzug fordert, dass sich ungefähr vier bis fünf Generationen nach Hitler die Ur-Urenkerl der Nazigeneration für die Blut- und Boden-Politik ihrer Vorfahren aber auch sonst in Österreich lebende Vertriebene verantwortlich zeichnen müssen, man selbst aber alles unter den Tisch kehrt. Ich bin ja der Meinung, dass alle Vertreibungen und Genozide von den Nachfolgegenerationen aufgearbeitet werden müssen und die Schuld angesprochen, beziehungsweise verarbeitet werden muss. Ich ziehe hier by the way als völlig anders Betroffene nicht nur den Holocaust und die Shoa sondern auch Aghed (Vertreibung und Ermordung der Armenier), die Vernichtung der Sinti und Roma…. und viele andere … wie aktuellere ethnische Säuberungen und Vertreibungen zum Beispiel im ehemaligen Jugoslawien ins Kalkül. Die zionistischen jüdischen Flüchtlinge aus Europa sind übrigens beim Abzug der Mandatsmacht der Briten in Haifa direkt in die Wohnungen der vertriebenen Palästinenser eingezogen, in denen noch das lauwarme arabische Essen auf dem Tisch stand. Diese Schuld und den eigentlichen Ursprung beziehungsweise die Gründe des bis heute schwärenden und unlösbaren Konfliktes verschweigen und verdrängen der Staat Israel und sehr viele Juden bis heute. Die historischen Tatsachen werden aber bei aller Geschichtsrevision Israels von jüdischen Flüchtlingen als Augenzeugen und Profiteure bestätigt. Zu lesen auch in der Biografie des jüdischen Verlegers Joseph Melzer. Die Autorin negiert hier genauso wie die Nutznießer der späten Geburt in Deutschland und Österreich die Verantwortung für die Taten der früheren Generationen und die Vertreibungen. Ist zutiefst menschlich, den Kopf in den Sand zu stecken, aber nicht gerade menschenwürdig. Bei all dieser Polemik der Autorin ist es dann eine richtige Wohltat, wenn andere Personen aus der jüdischen Gemeinde Wien endlich zu Wort kommen. Sie argumentieren weit ausgewogener, denken mehr nach, reflektieren mehr und sind nicht so auf Krawall gebürstet wie Weiss. Teilweise besprechen sie auch dieselben kontroversen Themen, die ich bereits angeführt habe, aber eben in einer völlig anderen Tonalität und mit viel durchdachteren Argumenten. Da sind: Chanan Babacsayv, der Chef der Israelischen Kultusgemeinde, Mally Shaked, die Führungen durch das jüdische Wien organisiert, Susanne Trauneck, Mitbegründerin des Jewish Welcome Service, das Besuchs- und Studienreisen von Juden in Wien organisiert, Ursula Raberger, die im Musikbereich den Kibbuz Klub organisiert hat, Rabbi Schlomo Hofmeister, Shoshanna Duizend-Jensen, die im Wiener Stadt- und Landesarchiv jüdisches Leben aufarbeitet und Willy Weisz, der neben seinem Job auch die christlich-jüdische Zusammenarbeit vorantreibt. All diese Interviewpartner beschreiben sehr wohltuend und informativ, was sie warum tun, wie jüdisches Leben stattfindet und wie sie sich in Wien wohlfühlen, obwohl die Autorin sie eigentlich sehr oft durch ihre Fragen mit Gewalt auf Konfrontation mit den von ihr verorteten und vertretenen Knackpunkten zu Israelpolitik, Beschneidung und mangelnder Sicherheit in Österreich bringen will. Eine sehr spannende Auseinandersetzung fand ich die Erörterung des Themas Brain-Drain mit Susanne Trauneck, wenn ich auch persönlich in der Diskussion mit der Neuen Rechten anderer Meinung bin. Klar, waren die Leben der ungebildeten Jüd*Innen in Nazideutschland gleich viel wert, als jene der gebildeten, die dem Staat als geistiges Humankapital fehlen. Aber wenn man die Nazi- oder die neoliberale Rechtskonservative moderne Sicht auf Antisemitismus fokussiert, ist es schon wichtig, anzumerken, dass Antisemitismus auch zudem sehr dumm ist, weil er intellektuelles Kapital zerstört. Die Sprache des Geldes ist nämlich das Einzige, was die modernen Rechtskonservativen, die unter der bürgerlich moderaten Hülle moderne Antisemiten sind, verstehen. Was mir schon ein bisschen an Kontroverse gefehlt hat, ist in diesem aktuellen Buch eine tiefere Auseinandersetzung mit der Doppelzüngigkeit der gegenwärtigen ÖVP-Politiker, die sich ja sowohl mit der FPÖ ins Bett gelegt haben, als auch sich derzeit deren Wählerschaft, den Nazis, mit antisemitischen Codes anbiedern und gleichzeitig mit Lippenbekenntnissen Respekt vor den Juden propagieren. In Nebensätzen kam zwar in einigen Interviews das Unbehagen darüber unterschwellig raus, aber direkt ansprechen und kritisieren wollte das keiner der Befragten. Klar ist die Thematisierung der berechtigten Kritik am Agieren der FPÖ, aber mir geht das mittlerweile zu wenig weit, denn das ganze rechtskonservative Spektrum sollte hier mal offen bezüglich Antisemitismus abgeklopft und kritisiert werden. Vor allem in Niederösterreich verorte ich diesen mittlerweile nicht nur bei FPÖ Politikern, genauso wie auch in rechtskonservativen klerikalen akademischen (juristischen) Wiener Kreisen solche Ansätze mittlerweile als Spitze des Eisbergs aufpoppen. Fazit: Wenn die Autorin mit ihrer undifferenzierten grauslichen Polemik mehr in den Hintergrund getreten wäre und die Interviewten vor den Vorhang geholt hätte, wäre es ein gutes Buch geworden. Den Titel „Jude ist kein Schimpfwort“ in „Ich bin Jude, ergo beschimpfe und bezichtige ich jeden des Antisemitismus, der nicht meiner Meinung ist“ umzuwandeln, ist halt kein gutes Konzept, um hier mal wirklich im linken Leserspektrum sinnvoll zu diskutieren, wie man Antisemitismus auch als Nicht-Jude begegnen kann oder modernes jüdisches Leben in Wien zu beleuchten.

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