brittaroeder
Eine fiktive Umgebung, eine isolierte Dorfgemeinschaft auf einer ungenannten Insel, archaische religiös motivierte Gesetze, die das Zusammenleben regeln. Im Mittelpunkt der allgemeinen Isolation eine junge Frau, eine Außenseiterin, die nicht in dieses Gefüge passt. Die aufbegehrt, weil sie einfach nur selbstbestimmt leben will. Auf den ersten Blick wirkt Karen Köhlers Roman wie eine klassische Dystopie, doch dieser Eindruck schwindet rasch, denn die Mechanismen von Macht und Gewalt in der von ihr beschriebenen Welt sind alltäglich und vertraut: Es sind auch hier die Frauen, deren Rechte am stärksten eingeschränkt werden. Lesen lernen dürfen nur Jungs, entscheiden und richten dürfen nur die Männer. Unfrei sind alle. Mir gefiel die Sprache, die Köhler ihrer zunächst namenlosen Protagonistin in den Mund legt. Aus ihrer Ich-Perspektive heraus erlebt die Leserschaft das gesamte Geschehen. Isoliert von der Dorfgemeinschaft (er)findet die junge Frau ihre eigene Ausdrucksweise. Zeugnis ihrer immer stärker werdenden inneren Unabhängigkeit. Die Gesellschaft in Köhlers Roman ist erschreckend vertraut: Der Wunsch nach Sicherheit und Stabilität bringt die Menschen dazu, sich freiwillig strengen Regeln zu unterwerfen. Veränderungen werden als Bedrohung empfunden. So erklärt sich auch der Hass der Dorfgemeinschaft auf die junge Frau, deren ungeklärte vermutlich uneheliche Existenz an sich an den Grundfesten der Dorfgesetze rüttelt. Sie, die Außenseiterin, anzuerkennen hieße anzuerkennen, dass es selbstbestimmte Lebensformen außerhalb der eigenen engen Gesetzte gibt. Das Anderssein, das Fremde, in dem eine gewisse Verführung wohnt, muss daher unterdrückt werden. Von Angst sind auch die Machthaber geprägt. Köhler entlarvt die Mechanismen der Unterdrückung als Zeichen ihrer Schwäche. Je stärker das Fundament der eigenen Macht bedroht wird, desto willkürlicher werden die Gesetze, um die Macht zu wahren. Köhlers Roman gleicht einer antiken Tragödie, in der es für das Individuum, welches sich außerhalb der bestehenden Gesetzte bewegt, keine Rettung gibt. Miroloi ist ein Buch mit einem eindeutigen Appell: Eine lebenswerte Welt braucht Toleranz und Freiheit. Interessant empfand ich die literaturkritische Debatte, die um diesen Roman entbrannt ist. Den meisten Rezensenten und Rezensentinnen aus den klassischen Feuilletons ist der Roman zu naiv gestrickt, zu eingängig, zu unrealistisch (wir reden über eine Dystopie). Zu sehr Mainstream. Mal gefällt die Sprache nicht, mal stört die rein weibliche Perspektive (zur Erinnerung: die Ich-Erzählerin ist weiblich). Ich persönlich empfand die meisten der aufgeführten Kritikpunkte als ziemlich überzogen und auch ungerecht. Da wurde der Autorin z.B. "unfruchtbare Selbstzufriedenheit" vorgeworfen Ja was soll das denn bitte heißen? Es erschließt sich mir nicht, warum man (und tatsächlich sind es vor allem die männlichen Stimmen unter den Kritikeren) mit so viel persönlichem Beleidigtsein auf einen Roman reagiert, der sprachlich in sich stimmig und inhaltlich konsequent konstruiert ist. Weil er ein großes Publikum erreicht? Weil er gut unterhält? Darf Literatur das nicht? Und wenn, läuft sie dann Gefahr nicht mehr als gehobene Literatur betrachtet zu werden? Doch wenn der Roman keine gehobene Literatur darstellt, warum fokussieren ihn dann die Feuilletons überhaupt und überlassen ihn nicht einfach dem Lesepublikum, das sich sowieso eine eigene Meinung bildet? Oder geht es doch um etwas anderes? Man könnte fast den Eindruck gewinnen, liest man die selbstgefälligen Beiträge der meist männlichen Kommentatoren, die den meist männlichen Kritikern Beifall zollen. Dafür, dass sie den Mut aufbringen, den Roman einer Frau zu rezensieren und das in der heutigen Zeit, in der man ja so schnell in Verdacht gerät, ja in welchen eigentlich? Dafür, dass sie, ganz großartig, fast selbstlos, rein den künstlerischen Wert des Textes betrachten, und sonst nichts, also nein, wirklich nichts, das muss immer wieder betont werden, wieso eigentlich? Und überhaupt: hat sich der Feminismus, so wie ihn der Roman propagiert, nicht inzwischen überlebt? Also ist das alles nicht ein wenig übertrieben? Aber gut, wer möchte der seriösen Literaturkritik schon irgendetwas unterstellen? Wo es doch wirklich nur um den Roman geht? Oder?