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elena_liest

Posted on 14.5.2021

Mitte der 80er Jahre in Paris: Die 13-jährige Vanessa Springora lernt auf einem Abendessen der Verlagsbranche den 36 Jahre älteren Autor G. M. kennen. Sie ist geschmeichelt von dessen Aufmerksamkeit, lässt sich von den zahlreichen auf diesen Abend folgenden Liebesbriefen einfangen - und in eine Beziehung führen, in der G. M. sowohl auf sexueller, als auch auf psychologischer Ebene die Macht inne hat. Als sie ihm wenige Jahre und etliche Affären später zu alt wird, kann sich Vanessa nach und nach aus der Beziehung lösen, doch der dadurch angerichtete Schaden wirkt sich auch heute noch auf ihr Leben aus. G. M. veröffentlicht in der Zwischenzeit mehrere Bücher über seine Beziehung mit der Minderjährigen Vanessa, ohne vorher ihr Einverständnis einzuholen. Durch ihr autobiographisches Buch "Die Einwilligung" setzt Vanessa Springora G. M. nun aber etwas entgegen: ihre eigene Stimme. Sie bricht ihr Schweigen und erzählt die Geschichte ihrer Beziehung, des Machtmissbrauchs seitens G. M. und sein konsequentes Ausnutzen der Schwachen. Und sie berichtet, wie alleine sie gelassen wurde: Ihre Mutter wusste von der Beziehung zwischen der Minderjährigen und dem 50jährigen, tat aber nichts dagegen - vielmehr lud sie G. M. noch zu gemeinsamen "Familienessen" nach Hause ein. Die Polizei erhielt anonyme Briefe über den Missbrauch, ermittelte aber nur halbherzig. Die Gesellschaft wusste sie auch nicht auf ihrer Seite, denn gerade in den 70er und 80er Jahren gab es in Frankreich in der linken Intellektuellenszene eine Bewegung, die sich stark machte für die freie Entfaltung der Sexualität. Sie wurde unter anderem unterstützt von prominenten Autor*innen wie Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre - und forderte in diesem Zusammenhang, das Strafrecht bei Beziehungen zwischen Erwachsenen und Minderjährigen zu lockern, das Einvernehmen zwischen den Beteiligten vorausgesetzt. Das hat mich besonders schockiert, denn ist es Minderjährigen überhaupt möglich, hier ein Einvernehmen zu erteilen? Die Autorin meint: Nein. Und dass sie Jahre später immer noch unter den psychischen Folgen der Beziehung zu leiden hat, spricht wohl Bände. Der Autor konnte bis zur Veröffentlichung des Buches jedoch in Ruhe und mit Erfolg sein Leben weiterleben - und seine Neigungen weiter ausleben. In seinen Büchern spricht er ganz offen über sein sexuelles Interesse an minderjährigen Jungen und Mädchen. Er hält mit seiner Pädophilie nicht hinter dem Berg, wird 2013 jedoch trotzdem mit einem französischen Literaturpreis ausgezeichnet und darf in zahlreichen Talkshows auftreten. Für mich absolut unfassbar. Vanessa Springora hat es mit "Die Einwilligung" geschafft, den Menschen die Augen für ihre Geschichte zu öffnen. Sie kommt dabei ohne wüste Anklage aus, legt vielmehr die Fakten dar und schafft es durch ihren nüchternen Schreibstil, dass das Buch noch erschütternder wirkt. In diesen unter 200 Seiten steckt so viel Schockierendes und so viel Zündstoff - ich kann wirklich nur allen, die sich mit diesem Thema auseinander setzen können, raten, das Buch zu lesen. "Ich wollte ihn in ein Buchgefängnis sperren, weil er das auch mit mir gemacht hat und mit all den anderen Mädchen und Kindern. Meine Hoffnung ist, dass er meine Worte wahrnimmt, wenn ich ihn auf seinem eigenen Terrain begegne." - Vanessa Springora, "Die Einwilligung"

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