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awogfli

Posted on 7.5.2021

Sehr selten wünsche ich mir, dass ich ein Buch nur bis zur Hälfte gelesen hätte, wie in diesem Fall, denn meistens sind Romane entweder in ihrer Gesamtheit immer wieder streckenweise gähnend langweilig und mühsam, oder der Plot kommt nicht in die Puschen und wird erst zum Ende interessant. So gut wie nie bin ich bisher auf eine derartige Story gestoßen, die im ersten Teil fast perfekt ist, sensationell durchdacht, witzig und rasant und im zweiten Teil so wirkt, als hätte ein völlig anderer Autor diesen Part geschrieben. Warum zum Teufel muss man in einem Roman mehr als fünfhundert Seiten schreiben, wenn man den Spannungsbogen nicht zu halten vermag und der Hälfte der Geschichte dann plötzlich die Füße einschlafen? Warum hat das Lektorat dort nicht den Rotstift angesetzt? Die Geschichte beginnt mit dem Finale, der Protagonist sitzt irgendwo im Knast und ist zum Tode verurteilt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat interveniert, aber das Todesurteil wurde bestätigt. In Rückblenden wird gemäß dem Titels aufgerollt, wie alles begann, wohin das führte und wer auf dem Weg dahin umkam. Grandios werden dabei die Kindheit und Jugend des Protagonisten und das familiäre Geflecht fast schon in Form einer Familienaufstellung geschildert. Die verwitwete Omi ist eine bösartige, nörgelnde Psychopathin, die ihre Schwiegertochter sekündlich terrorisiert und abwertet. Ihr Sohn, der Vater des Protagonisten, steht teilnahmslos am Wegesrand seines eigenen Lebens und lässt alles mit seiner Familie geschehen. Es ist auch ein bisschen schwierig, denn Omi hat die Hand auf dem Haus und dem Vermögen, ihre Familie muss im Keller hausen, sie residiert oben, was auch gleich die Machtverhältnisse punktgenau abbildet. Die Mutter der Hauptfigur wird permanent schikaniert, beschimpft und ausgebeutet, sie wehrt sich auch bedauerlicherweise niemals gegen die Anwürfe der bösen alten Frau, sondern nimmt lächelnd und duldend alle Beleidigungen und Bösartigkeiten an, die teilweise so atemberaubend grausam und widerwärtig sind, dass einem wirklich die Spucke wegbleibt. Der kindliche Protagonist kann nicht verstehen, warum seine Eltern als Erwachsene das alles mitmachen und inszeniert in seinem sehr ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und dem schon sehr früh ausgeprägten Faible für die Juristerei, eine Gerichtsverhandlung gegen die Großmutter, in der er Ankläger, Zeuge und Richter in einem ist. Omi wird in letzter Konsequenz zum Abschluss der Verhandlung vom kleinen Buben im Wohnzimmer in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Was anfänglich als noch eine sehr vergnügliche, konstruktive Bewältigungsstrategie eines sehr intelligenten Kindes von familiären toxischen Beziehungsmustern in Form eines Gedankenspiels anmutet, hat sich aber im Protagonisten festgebissen, und die Wut sitzt tief, dass Täter oft davonkommen und sehr vieles nie geahndet wird. Herrlich witzig mit viel schwarzem Humor wird diese Kindheit und Jugend vom Autor dargelegt und damit das Fundament „Wie alles begann ...“ geschaffen. Die Beschäftigung mit Recht und Gesetz lässt unseren jungen Helden auch in der beginnenden Adoleszenz nicht los und so studiert er in Freiburg Jura. Endlich ist er diesem furchtbaren familiären Umfeld entronnen und er muss sich nicht mehr mit der bösen Großmutter abgeben, denn die Distanz von mehr als 150 Kilometern ist für die Übergriffigkeit der widerlichen Psychopathin zu weit, das liegt außerhalb ihres Operationsradius. Stilistisch besonders auffallend und für mich sehr erfreulich ist der bitterböse, satirische bis trocken-zynische Stil des Autors, den ich in einem Beispiel darlegen möchte, als unser Jurist das Leben vieler Erwachsener, insbesondere seiner Eltern gar trefflich seziert. "Zahllose Menschen erdulden ihren Arbeitsalltag bekanntlich nur dank der liebevoll gehegten Illusion, dass danach das wahre Leben beginnt; die ökonomische und intellektuelle Freiheit, dieses Konzept zu hinterfragen, fehlt ihnen nahezu immer. 30 Jahre später stellen sie dann fest, dass die goldene Rente, die sie sich lebenslang als Möhre vor die eigene Nase gehängt haben, niemals Realität werden wird. Stattdessen bekommen sie einen überraschend bitter schmeckenden Cocktail aus leeren Tagen, sterbenden Freunden, Antriebslosigkeit und Darmkrebs serviert, der ihnen umgehend klarmacht, dass sie aufs falsche Pferd gesetzt haben und diese Entscheidung nie mehr revidieren können." Während des Jurastudiums wird dem Protagonisten immer klarer, dass Recht haben und Gerechtigkeit bekommen in einem staatlichen System nicht immer beziehungsweise öfter nicht gewährleistet sind. Im Sinne der Resozialisierung der Täter wird sehr oft auf die Opfer, auf den Opferschutz und auf eine Lösung der verursachten Traumata verzichtet. Sehr witzig und auch klug gemacht werden hier, en passant, einige der Eckpfeiler unseres Rechtssystems diskutiert, denn der Protagonist und die Geschichte kritisieren auch vom juristischen Standpunkt aus auf Basis von juristischen Grundlagen unsere Täterjustiz. Solche Gesetzeslücken merkt man vor allem auch in der Realität stark bei Delikten der Gewalt gegen Frauen, die erst dann wohlwollend und mit viel Verständnis für die Täter geahndet werden, wenn sie final im ultimativen Femizid enden. Vorher will man offensichtlich bei durchaus justiziablen geringeren Taten einfach nichts tun. Österreich ist übrigens europäischer Spitzenreiter bei Femiziden und das einzige Land in Europa, in dem es mehr Morde an Frauen als an Männern gibt. Erst letzte Woche wurde wieder eine Frau umgebracht, bei der sich der Täter schon seit Jahren gerichtsanhängig und medial öffentlich abzeichnete und sich sukzessive in seinem Verhalten steigerte. Ein bisheriges Opfer, die Grüne Abgeordnete Sigrid Maurer, wurden in einer grandiosen Täter-Opfer-Umkehr vor Gericht in erster Instanz zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie den Täter einer verbalen Vergewaltigungsdrohung und einer realen Belästigung auf der Straße vor ihrer Wohnung auf Facebook beim Namen nannte und nicht eindeutig beweisen konnte, dass wirklich der von ihr benannte Täter auf seinem Facebook-Account postete. Er nannte mehrere Freunde und Supporter, die angeblich auch auf seinen Computer Zugriff hatten und das Gericht glaubte ihm. All die Klatscher am Rande und die Richter, die auf Grund der Gesetzesgrundlage auch anders entscheiden hätten können, was in 2. Instanz in einem Berufungsverfahren dann auch passierte, haben nun die Ex-Lebensgefährtin des Täters auf dem Gewissen, da er sich ja in jeder Gewalttat – und da gab es noch einige mehr – immer mehr bestätigt fühlte, da ihm nie jemand wirklich auf die Finger klopfte und die Rechten Recken auf Social Media ihn auch noch in seinem Frauenhass bestärkten, indem sie ihn anfeuerten. (Trauriger Nachtrag: Die brutale Wirklichkeit hat meine Analyse erneut eingeholt. Gestern gabs schon wieder 2 Femizide in Österreich.) Simon Urban vermittelt in seiner Geschichte mit dem juristischen Blick sehr viel Wissen und verpackt das normalerweise sperrige Thema auch noch teilweise witzig bis bösartig-satirisch, gewieft und rasant in einer Story um den Protagonisten. Als an der Uni eine neue Professorin auftaucht, die der Resozialisierung vor allem anderen den Vorrang gibt und nicht einmal mehr die Gesellschaft vor brandgefährlichen Tätern schützen will, beginnt unser Held diametral entgegengesetzt zur Lehrmeinung an seiner Alma Mater mit der Idee und der Konstruktion eines alternativen Gesetzesgebäudes, das vor allem die Opfer, die Leiden der von den Taten Betroffenen, Gerechtigkeit und ein bisschen auch Vergeltung in die Gesetze einfließen lässt. Mit seiner besten Freundin Sandra arbeitet er auch zudem nie geahndete Verbrechen von Sandras Nazi-Onkel auf, wobei es zur ersten Grenzüberschreitung kommt, denn Sandra erstickt den alten, bösartigen, verkommenen und davongekommenen Nationalsozialisten, der seine rechte Gesinnung sein Leben lang permanent vor sich hergetragen hat und auch noch mit seinen Taten prahlt, mit einem Kopfpolster in seinem Zimmer im Altenheim. Da unser Held so etwas gar nicht erwartet hat, er ist sehr überrascht als er live dabei als Zaungast miterlebt, dass Sandra den alten Nazi exekutiert. So wird auch hier in seinem Kopf ein neues Puzzlesteinchen gesetzt, was tatsächlich im Rahmen von Rache und Vergeltung völlig ungeahndet, sofern alle Zeugen dichthalten, möglich ist. Durch seine Leistungen an der Uni und seine außergewöhnliche Intelligenz bekommt der Protagonist ein gut dotiertes Exzellenzstipendium und er intensiviert seine Bemühungen um eine alternative Rechtsprechung. Mit einem Knall, der sensationell inszeniert wird, trägt er dem Professorenkollegium in einer fiktiven, aber real möglichen Fallstudie sein Anliegen und seinen zukünftigen Forschungsschwerpunkt vor, bevor er für immer von der Uni verschwindet und im Ausland andere Rechtsnormen, Ungerechtigkeiten und Sühneregeln studiert. Diese Szene ist ganz großes Kino. Bis hierher war die Geschichte, wie schon in der Einleitung gesagt, grandios, dann verliert sie völlig den Spannungsbogen und ihre Mitte. Das habe ich auch gleich daran gemerkt, dass ich sehr viele Ereignisse des zweiten Teils im Gegensatz zum ersten total vergessen habe, obwohl die Lektüre des Buchs erst eineinhalb Wochen zurückliegt. Auf einem Thunfischfangschiff irgendwo im Nirgendwo studiert er Ungerechtigkeit und archaische Rechts- und Normsysteme, die sich aus der Macht des Kapitäns ergeben. In Singapur versucht er seinen Kriterienkatalog, wie das Leid der Opfer zuerst zu bewerten ist, damit es anschließend in das Urteil einfließen kann, zu vervollständigen. Sukzessive kippt er aber gedanklich immer mehr in das Konzept der Selbstjustiz, die die Täter nicht nur zu langer Gefängnisstrafe, sondern zum Tode verurteilt. Als er die traumatisierte Hazel trifft, die von einem Typen bewusst mit HIV angesteckt wurde, wie übrigens auch noch 46 weitere Frauen, kann sich der Täter in einer öffentlich geführten Verhandlung rauswinden (was für eine Analogie auch zu meinem Femizidbeispiel der letzten Woche), indem ihm niemand beweisen kann, dass er von der Ansteckung gewusst hat. Nachträglich verhöhnt der Täter die Opfer, indem er sich in seinem Bestseller auch noch brüstet, von der Infektion gewusst zu haben. Als die neuen Beweise in Form des Geständnisses in Buchform inklusive eines uralten ärztlichen positiven HIV-Attests auftauchen, ist die Gerichtsverhandlung aber schon vorbei, der Widerling ist freigesprochen und die Tat kann durch juristische Lücken nicht mehr geahndet werden. Unser Held führt für Hazel und ihe Familie einen realitstischen Schauprozess ähnlich wie in alten Zeiten bei seiner Großmutter im Wohnzimmer, aber natürlich nun total professionell und juristisch korrekt durch, um ihre Traumata aufzulösen. Am Ende der Verhandlung, die mit einem Todesurteil endet, wird der Protagonist gebeten, auch noch den Henker dieses Widerlings zu spielen … . Fazit: So schade! Ein halbes Buch, das grandios furios, informativ und witzig ist, mit einer zweiten, ganz schlechten Hälfte. Also von mir keine Leseempfehlung für den ganzen Roman, der in der Endbeurteilung halt dann nur mittelmäßig und mühsam ist. Für den ersten Teil würde ich aber durchaus eine Empfehlung aussprechen, sofern in der Mitte abgebrochen wird.

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