brittaroeder
Geschichtsunterricht bedeutet meist, dass vor allem Fakten vermittelt werden. Dabei sollte eigentlich das Trainieren von Empathie in jedem Geschichtslehrplan an oberster Stelle stehen. Erst Empathie ermöglicht uns, die historischen Fakten in Relation zu den Menschen zu setzen. Erst durch Empathie wird Geschichte als Schicksal begreifbar. In diesem Sinne bietet Judith Kerrs Roman „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ seinen (jugendlichen) Leserinnen und Lesern den perfekten Geschichtsunterricht. Judith Kerr erzählt die autobiografisch gefärbte Handlung aus der Perspektive der 10-jährigen Anna. Es ist 1933 und das Mädchen flieht mit seiner Familie aus der Heimatstadt Berlin, zunächst in die Schweiz, später nach Paris. Auf einmal ist Anna ein Flüchtling. Was bedeutet es für ein 10-jähriges Mädchen von einen Tag auf den anderen sein Zuhause zu verlassen? Wie fühlt es sich an in einem fremden Land anzukommen? Niemanden zu kennen? Die Sprache nicht zu verstehen? Kerr erzählt Annas Geschichte auffallend ruhig. Im Grunde zeigt sie nicht viel mehr als den Alltag, den die 10-jährige auf ihren Flucht-Stationen erlebt. Oder vielmehr, wie sich Anna und ihre Familie jedes Mal aufs Neue einen neuen Alltag schaffen, nur um ihn dann erneut aufgeben zu müssen. Es ist ein Alltag, der geprägt ist durch den schleichenden sozialen Abstieg der Familie, durch viele kleine Enttäuschungen und Entbehrungen, durch Heimweh und Abschied nehmen, durch die Sehnsucht dazuzugehören, ebenso wie durch das unbedingte Festhalten aneinander als die einzige Möglichkeit noch so etwas wie Heimat zu spüren. Kerr verzichtet auf dramatische Effekte. Niemand in Annas Umfeld erfährt physische Gewalt oder Hunger. Die Gefahr, die von den Nazis für die jüdische Familie ausgeht, erscheint Anna fast abstrakt. Die Gräueltaten der Shoah bleiben in der Erzählung außen vor. So ist das Buch besonders für eine junge Leserschaft gut geeignet, um sich dem Thema zu nähern ohne traumatisiert zu werden. Auch sprachlich orientiert sich Kerr an ihrer jungen Protagonistin und deren Bedürfnissen. Trotzdem ist Kerrs authentische Darstellung eines Flüchtlingslebens durchaus beklemmend, und als Ganzes absolut zeitlos. Ihr Roman hat nichts an Gültigkeit verloren und genau das macht ihn zum Paradestück eines jeden Geschichtsunterrichts. Geschichte wird als das gezeigt was es ist: Als etwas, das ganz alltäglich passiert. Als etwas, das ganz normalen Menschen widerfährt. Als etwas, das einen angeht. Und auch das ist unübersehbar: Geschichte ist nie vorbei, sie wiederholt sich, wirft Parallelen auf, die in unsere Zeit hineinreichen. Fazit: Perfekte Geschichtsstunde für junge Leserinnen und Leser. Klare Leseempfehlung!