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awogfli

Posted on 8.4.2021

Roths Geschichte von Hiob ist herzzerreißend, vor allem weil der Autor jede einzelne Figur von Mendel Singers Familie derart tief geschildert hat und auch die Beziehungsgeflechte der Familienmitglieder untereinander ganz großartig beleuchtet werden: zum Beispiel wie sich die Ehe der Singers entwickelt, wie sich die Ehepartner einander entfremden, wie die Kinder, denen die Eltern die Verantwortung für den behinderten Bruder Menuchim aufgedrückt haben, sich am wehrlosen Opfer rächen und es aus Gedankenlosigkeit und ein bisschen kindlicher Grausamkeit fast umbringen und nachher die Schuldgefühle verarbeiten. Die Tiefe aller Figuren ist wirklich erstaunlich, sogar der behinderte Sohn wird irgendwie noch grandios gezeichnet, obwohl er ja über weite Strecken den Romans noch so gut wie gar nix zum Geschehen beiträgt, außer dass er für alle eine Last darstellt und einiges an Entfaltungsmöglichkeiten jedes einzelnen Familienmitglieds verhindert. Als Projektionsfläche und als Ausrede ist er so wundervoll gezeichnet, dass es nur eine Freude ist. Aber auch die Entwicklung der Geschwister von der Teenagerzeit bis zur Adoleszenz wird grandios beschrieben. Die beiden Söhne von denen einer nämlich Jonas zum Militär möchte und der andere Schemarja vor dem Armeedienst nach Amerika flüchtet, die Rebellion der Tochter Miriam und ihre sexuelle Befreiung, die die sehr gläubigen Eltern in Zugzwang bringt, Miriam aus ihrem gewohnten Umfeld zur reißen und zu Samuel nach Amerika auszuwandern, da sie sich regelmäßig den Soldaten anbietet. Dabei ist der behinderte Sohn Menuchim im Weg, er kann mit seiner Behinderung nicht emigrieren und wird bei einer Familie im Dorf zurückgelassen. Die Eltern sind in einem moralischen Dilemma und entscheiden sich, die Keuschheit der Seele der Tochter zu retten und nicht mehr ausschließlich das körperliche Wohl des behinderten Menuchim im Fokus zu haben, wie sie dies all die Jahre getan haben. Auch in Amerika, wo es anfangs für die Familie besser zu gehen scheint, wird Mendel von weiteren Schicksalsschlägen gebeutelt. Sein Sohn Sam (Schemarja) hat es zu Reichtum gebracht und in dem Moment, als Mendel endlich einmal darauf vertraut, dass auch er Glück hat, und sich einen Wimpernschlag lang positive Gefühle und Zukunftshoffnungen gönnt, wird sein Sohn Sam zum amerikanischen Militär eingezogen und fällt, Jonas gilt bereits länger in Russland verschollen. Als Mendel und seine Frau Deborah erfahren, dass beide Söhne ziemlich sicher tot sind, stirbt seine Frau am selben Tag an gebrochenem Herzen. Aber die Tiefschläge sind noch nicht vorbei, der gläubige Mendel muss auch noch erfahren, dass sein behinderter Sohn Menuchim in den Kriegswirren wahrscheinlich nicht den Funken einer Chance hatte und seine Tochter Miriam landet in einer Irrenanstalt, sie ist unheilbar krank. So bleibt nur noch der mittlerweile greise Mendel übrig, dem sein Gott Jahwe nicht mal die Gnade erweist, dass er ihn sterben lässt, er muss noch ewig weiterleiden und leben und avanciert im jüdischen Viertel sogar als Symbolfigur des Leidens und der Prüfungen Gottes. Wird er anfänglich noch recht wertschätzend behandelt, weil er und seine Familie quasi das gesamte Unglück des Viertels auf sich gezogen haben, so behandeln ihn seine Glaubensgenossen mit der Zeit immer respektloser, quasi nach dem Motto er ist halt selbst schuld. Am Ende ist der Vergleich mit der Hiob Geschichte einerseits offenbar, denn Mendel Singer bekommt wie durch ein Wunder seinen Sohn Menuchim zurück, noch dazu geheilt von seiner Behinderung und erfolgreich als Komponist. Hiob bekam sieben von zehn Söhnen zurück, jedoch die Tonalität und die religiöse Botschaft beider Geschichten ist komplett anders, denn der alttestamentarische Hiob verliert nie den Gottglauben und wird deshalb belohnt, im Gegensatz zu Mendel, der sich von seinem Jahwe voller Groll abwendet und dann plötzlich vom Glück heimgesucht wird. Hier wird von Roth das religiöse Muster der Reichen und Mächtigen kritisiert, die durch die Vereinnahmung des institutionellen Glaubens so gut wie immer die bestehenden Verhältnisse zementieren. Die Armen sollen in Armut, Gottglauben an Prüfungen und Annahme dieses Schickaals genau im ewigen Dilemma bleiben, ohne Hoffnung, in der diesseitigen Welt ihr Schicksal zu verbessern, nicht mal marginal. Ein besseres Los wird dann auf das Leben nach dem Tod verschoben, ähnlich wie man dem Esel die Karotte vor die Nase hängt, damit sich die Reichen ungehindert weiter die Taschen vollstopfen können. Denn für Oberschicht gilt ja so eine Demut vor Gott nicht. Dieser Glaube, der ja in vielen institutionellen Religionen, die sich immer den Mächtigeren anbiedern, unter den Armen, Geschundenen, und Unterprivilegierten wie auch Frauen weiterverbreitet wird, geht ja sogar so weit, dass viele im Vertrauen auf Gott und das unausweichliche Schicksal nicht einmal die seltenen geringen Chancen ergreifen, die sich ganz glücklich einstellen. Hierzu gibt es schon zu Beginn des Romans von Joseph Roth eine Schlüsselszene, als ein Arzt zu Mendel Singer kommt und ihm anbietet, dass er seinen behinderten Sohn Menuchim von seiner Epilepsie heilen kann und das auch noch gratis. Mendel Singer nimmt das Angebot nicht an, denn Gott muss ihm helfen und ein Wunder vollbringen. „Hilf Dir selbst, dann hilft Dir auch Gott“, soll einfach für gläubige arme Leute nicht gelten. Dabei muss ich immer einen katholischen Witz denken. "Ein sehr gläubiger Christ hat einen Autounfall und liegt blutend im Straßengraben. Da kommt eine Passantin und will dem Mann helfen, dieser nimmt die Hilfe aber nicht an und sagt, dass ihm Gott helfen wird. Dann kommt ein Polizist vorbei und will die Rettung rufen, aber der Mann nimmt die Hilfe nicht an, weil er auf die Hilfe Gottes wartet. Zuletzt kommt auch noch zufällig ein Sanitäter vorbei, der ihn verbinden will, aber der Mann lehnt die Hilfe ab und verblutet. An der Himmelstüre muss er warten und wird nicht eingelassen. Der Mann will mit Gott sprechen und trifft auf Petrus. Petrus will ihn nicht in den Himmel lassen, denn er ist zu dumm für den Himmel. Der Mann hadert, warum ihm Gott nicht geholfen habe und Petrus antwortet. Jetzt hat Dir Gott eine Passantin, einen Polizisten und noch einen Sanitäter geschickt und Du hast Gottes Gnade nicht angenommen, Du bist nicht für den Himmel geeignet." Diese Geisteshaltung findet sich übrigens nicht nur seit ewigen Zeiten in vielen Religionen, sondern auch heutzutage in der gesamten Esoterik und der Homöopathie. Die Religionskritik Roths zieht sich durch den gesamten Roman. Stimmte Mendels Frau Deborah anfangs in Russland noch zu, als die Familie die Hilfe des Arztes für Menuchim nicht annahm und vertraute auf eine dumme Prophezeiung des Rabbis, für die dieser sogar noch Geld nahm, so kommt sie in Amerika durch die geänderte Philosophie und die Aufbruchsstimmung zu einer neuen Erkenntnis, was der Dialog von Mendel und Deborah klar darlegt. Mendel: „Ach dem Armen geht es schlecht, wenn er gesündigt hat, und wenn er krank ist, geht es ihm schlecht. Man soll sein Schicksal tragen. Lass die Söhne einrücken, sie werden nicht verkommen. Gegen den Willen des Himmels gibt es keine Gewalt. Von ihm donnert und blitzt es, er wölbt sich über die ganze Erde, vor ihm kann man nicht davonlaufen.“ Deborah aber antwortete, die Hand in die Hüfte gestemmt, über den Bund rostiger Schlüssel: „Der Mensch muss sich zu helfen suchen, und Gott wird ihm helfen. So steht es geschrieben. Mendel! Immer weißt Du die falschen Sätze auswendig. Viele Tausend Sätze sind geschrieben worden, die überflüssigen merkst du dir alle!“ Erst als Mendel Gott aus seinem Leben verbannt, kehrt das Glück bei ihm ein und er bekommt zumindest ein Kind, nämlich Menuchim ganz sicher wieder durch ein Wunder zurück und als Zugabe drauf gleich eine ganze Familie mit Enkelkindern, das Schicksal von Miriam ist auch noch nicht ganz besiegelt und Jonas, der verschollene Sohn in Russland könnte in Österreich gesehen worden sein. Das ist diametral entgegengesetzt zur Philosophie der Hiob Geschichte. „Gott ist grausam, und je mehr man ihm gehorcht, desto strenger geht er mit uns um. Er ist mächtiger als die Mächtigen, mit dem Nagel seines kleinen Fingers kann er ihnen den Garaus machen, aber er tut es nicht. Nur die Schwachen vernichtet er gerne. Die Schwäche eines Menschen reizt seine Stärke, und der Gehorsam weckt seinen Zorn.“ Das hat fast schon marxistische, aber zumindest sozialistische Züge, mit gotteslästerlichen Diskussionen und Anwandlungen von sehr gläubigen Menschen (und das meine ich für viele Religionen). Sensationell für diese Zeit! Fazit: Für mich ein großartiger Roman und von der Güte her fast so gut wie der Radetzkymarsch, wenn auch dieser von den Analogien und vom Plot her im Roman mit feinerer Feder konzipiert ist, so überrascht und überzeugt Roths Hiob durch die Tiefe der Figuren und dadurch, wie grandios der biblische Stoff umgearbeitet wurde. Die feinen Seitenhiebe und Analogien treten nicht im Roman auf, sondern werden erst im Vergleich mit dem alttestamentarischen Hiob offenbar.

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