Profilbild von awogfli

awogfli

Posted on 26.3.2021

Bei diesem Buch bin ich anfänglich an meinen eigenen Erwartungen gescheitert, die der Verlag in mir durch den Klappentext genährt hat, denn mir wurde ein bitterböser Roman versprochen, in den ich ob der Ankündigung automatisch auch schwarzhumorige und witzige Tendenzen hineininterpretiert habe. Die Geschichte ist aber absolut nicht witzig, kein Funken von Humor. Nachdem ich nach der ersten Ernüchterung meine enttäuschten Projektionen überwunden habe, würde ich der Autorin unrecht tun, indem ich den Roman schlecht bewerten würde, im Gegenteil, er ist sogar richtig gut gelungen, wenn man ihn als das sieht, was er tatsächlich ist: eine ziemlich tiefe, psychologische Analyse von sehr gestörten Menschen. Das Setting der Geschichte ist ausnehmend kreativ installiert. Anlässlich der Bestellung eines neuen Geschäftsführers irgendeiner Marketingagentur wird der renommierte Coach Tankwart engagiert, der in einem Assessment Center, also in einem Auswahlverfahren, das auch auf psychologischen Einschätzungen und Übungen beruht, den am besten geeigneten Kandidaten auswählen soll. Was niemand in der Branche und beim Eigentümer der Werbeagentur weiß, was der Leserschaft aber durch die inneren Monologe gleich klar wird: Coach Tankwart ist ausgebrannt, das ist sein letzter Auftrag und er möchte mit dieser Gruppe irgendetwas anders machen, als es in solchen Verfahren üblich ist. Sehr spannend werden die Psychotricks des Beraters geschildert, der die Bewerber unbedingt aus ihrem Konzept bringen will und ihnen die Masken, die sie zur Schau stellen, die ihre Leistungsbereitschaft und ihren Erfolgswillen demonstrieren, mit Gewalt herunterreißen möchte. Dazu bedient er sich einiger Methoden der Psychoanalyse und der systemischen Psychotherapie. Wie sich die einzelnen Übungen, wie zum Beispiel einen Baum zu zeichnen oder auch verschüttete Kindheitserinnerungen zu wecken, auf die Manager Anette, Helmut, Franz und Horst auswirken, wird auch in inneren Monologen eines jeden thematisiert. Was am Anfang noch ob der vielen Szenenwechsel ein bisschen mühsam anmutet, gibt dann tiefe Einblicke in die Seele der Protagonisten. Jetzt wäre das Setting nicht ganz so spannend, wenn im Top Management von Unternehmen sich nicht besonders viele, entgegen der Gesamtbevölkerung auch signifikant häufig psychisch gestörte Individuen, herumtreiben würden. Ich meine diese Hypothese nicht im Sinne von einer typischen persönlichen Einschätzung, sondern im Sinne von tatsächlich psychisch krank mit diagnostizierter Persönlichkeitsstörung. Dies wurde übrigens unlängst in einer Studie auch wieder empirisch bestätigt, dazu gibt es viele Untersuchungen 2008, 2014, 2019 – die aktuellste findet Ihr hier: Im Top Management tummeln sich sehr häufig Narzissten, Psychopathen, Soziopathen und andere zerrüttete Persönlichkeiten, die durch unser gegenwärtiges Wirtschafts- und Hierarchiesystem sogar massiv gefördert werden, an die Spitze zu gelangen. So ist es auch in dieser Werbeagentur. Da vereinen sich in dieser Gruppe Psychopathie, weniger gefährlicher Narzissmus, Soziopathie, Essstörungen, Gewaltfantasien, Angststörungen, und auch ein paar ganz normale unsympathische Eigenschaften wie primitiver Sexismus und Minderwertigkeitskomplexe, die unter den Masken des erfolgreichen Managers, beziehungsweise der Managerin, versteckt werden. Renate Silberer lässt uns Leser*innen durch die inneren Monologe hinter die Fassade blicken, und diese Monologe sind absolut notwendig, denn niemand der Anwärter hätte jemals alles, was die Autorin hier chirurgisch aus der Psyche herausschält, irgendjemandem erzählt, nicht mal dem Therapeuten, wobei kaum einer der Gruppe überhaupt in Therapie ist. Dieser Gruppen-Seelenstriptease ist extrem spannend und die Autorin geht sogar so weit, nicht nur den Ist-Zustand herauszukitzeln, sondern auch die Gründe dafür: Nämlich wie alle von ihren Eltern zu solchen Persönlichkeiten gemacht wurden, beziehungsweise wie sie sich selbständig durch die Traumata, die ihnen die Eltern zugefügt haben, mit Überlebensstrategien zu der Persönlichkeit entwickelt haben. Das ist ganz großes Kino. Jeder von uns findet in einer großen Firma zuhauf Teile und Charaktereigenschaften dieser sechs Archetypen von gestörten Persönlichkeiten im Management, man muss sich nur umschauen. Die hier präsentierten Figuren sind aber absolut nicht klischeehaft, schablonenartig konstruiert, auch nicht respektlos dargestellt, sondern sehr menschlich geschildert. In Summe ergibt der Roman auch eine ausgezeichnete Kritik an unserer Leistungsgesellschaft und wie unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem gerade die ungeeignetsten und kaputtesten Menschen in Führungspositionen spült. Auch der Berater hat Kindheitstraumata, genauso wie die zu beurteilenden Anwärter auf den Geschäftsführerposten. Zudem verfolgt er eine eigene Agenda, denn er hat sich schon vom Leistungsdenken verabschiedet, einen Flug nach Rio in sein neues Leben gebucht und will die Gruppe nun mit seinen neuen Ideen und seiner Entwicklung übergriffig missionieren. Dass das irgendwie schiefgehen muss, ist völlig klar, aber wie es eskaliert, werde ich Euch nicht verraten. Das Finale war mir persönlich dann um eine Nuance zu zahm, obwohl ich es sehr genossen habe. Meine Forderung nach mehr Dramatik liegt wahrscheinlich an meinem Faible für Tom Sharpe, bei dem in solchen Konstellationen und Geschichten meistens ganze Stadtviertel explodieren oder mindestens ein Massaker stattfindet. Fazit: Sehr lesenswert. Ein beachtliches Romandebüt in Form einer tiefenpsychologischen Analyse einer ganzen Gruppe von gestörten Management-Persönlichkeiten, das ich jedem, der sich dafür interessiert, wärmstens ans Herz legen möchte. Weiter so! Am Anfang braucht man ein bisschen Geduld, um sich mit dem Setting der ständig wechselnden inneren Monologe anzufreunden, aber es lohnt sich absolut.

zurück nach oben