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Fabian Neidhardt ist hier mit seinem Verlagsdebüt ein sehr einfühlsames Buch über das Sterben und den Sinn des Lebens gelungen und das auch noch, obwohl der Protagonist aus meiner Sicht nicht eben der Sympathischste ist. Alex ist ein Vermeider, ein Schweiger, ein Flüchter und ein Mehlwurm*, jemand der sich lieber verdrückt, als sich einer unangenehmen oder schwierigen emotionalen Situation zu stellen und mit ihr zu konfrontieren, egal wie viele Leute er damit verletzt, indem er sie gefühlsmäßig am ausgestreckten Arm verhungern lässt. Nichtsdestotrotz hat der Protagonist auch seine guten Seiten, er war zwar nie der Macher, oder derjenige, der seine eigenen Ideen verwirklicht hat, aber wenn sein bester Kumpel Bene und seine Freundin Lisa mitmachen und ihm eigentlich den Anstoß geben, seine Träume zu verwirklichen, dann ist er dabei und man kann sich auf ihn als Freund in allen Situationen verlassen. Die erste Entscheidung von Alex konnte ich als Leserin noch sehr gut nachvollziehen. Er hat unheilbaren Magenkrebs mit Metastasen in der Leber, sein Vater ist daran elendiglich verreckt, und dieses Trauma, den Vater vor seinen Augen so leiden zu sehen, das er als kleines Kind durchmachen musste, hat er nie verwunden. Das möchte er Bene und Lisa nicht antun. Mit einer Lebenserwartung von sechs Monaten, genießt er noch vier Monate nach der Diagnose das Leben in vollen Zügen und checkt nun zwei Monate vor seinem prognostizierten Tod allein in einem Hospiz ein. Er will dort inkognito, ohne Kontakt zu seinen Freunden ganz allein und einsam sterben. In Rückblenden wird vom Autor die Vergangenheit von Alex aufgerollt und sein Abschluss mit seinen Liebsten, er hat davor einfach sein Leben aufgeräumt. „Also was willst du tun? Ganz konkret?“ "Ich habe die letzten Tage sehr viel Zeit damit verbracht, genau darüber nachzudenken. Es gibt gar nicht so viele Dinge, die ich unbedingt tun will. All die Dinge, von denen ich glaubte, sie erledigen zu wollen oder zu müssen, all die ToDos, die mich früher wach gehalten haben, wirken ganz schön klein neben dem Tumor. Er skaliert das Leben neu." Abseits der Rückblenden geht auch das Leben von Alex weiter. Weigert er sich zunächst noch, irgendjemand im Hospiz kennenzulernen, weil sich Freundschaften nicht lohnen, da alle sowieso sehr schnell sterben werden, ändert er irgendwann seine Strategie und freundet sich mit mehreren Hospizbewohnern an, lernt auch ihre letzten unerfüllten Wünsche und Sehnsüchte kennen. Das war fast der berührendste Teil des Buches, wie sensibel der Autor sterbende Menschen schildert, die eben trotzdem noch zählen, auch wenn sie nicht mehr lange da sind. Auch das Personal in dieser Einrichtung ist vorbildlich und einfühlsam, das hat mir extrem gut gefallen, denn bei diesem emotional sehr anstrengenden Job der Sterbebegleitung, die Würde der Kranken zu bewahren, ist schon eine große Leistung. In der Mitte des Buches gibt es dann einen Plottwist, den ich hier ohne zu spoilern durchaus verraten kann, denn er steht im Klappentext. Whoo, was für eine Entwicklung! Weil das Hospiz gesetzlich nur 30 Plätze anbieten kann und dieser Alex seit drei Monaten nicht stirbt, also seine bezahlte und prognostizierte Zeit schon ein Monat übertroffen hat, im Gegenteil, es geht ihm von Tag zu Tag besser, ordnet die kaufmännische Leiterin routinemäßig eine neue Untersuchung an. Dabei kommt raus: Der bösartige Tumor war eine Fehldiagnose der Magentumor ist gutartig und die am Röntgenbild gezeigten Metastasen in der Leber sind auch nur kleine gutartige Tumore. Alex ist fuchsteufelswild, verständlich, hat dies aber irgendwie auch verursacht, denn nach der ersten Diagnose war er so geschockt, das gleiche Schicksal wie sein Vater zu erleiden, dass er sich jeder weiteren Untersuchung und Therapie verweigert hat. Hier muss ich nun erstmals und bedauerlicherweise auch den Haymonverlag ordentlich kritisieren, denn wenn im Klappentext und auf der Rückseite des Covers nicht derart gespoilert worden wäre, hätte ich viel mehr Vergnügen am Roman gehabt und diese Überraschung besser auskosten können. Eigentlich hätte man nur drei Sätze hinten und vorne weglassen müssen. Als Alex wieder in sein altes Leben einsteigen will, sieht er durch das Fenster seines Cafés, wie sich sein bester Freund Bene und Lisa küssen. Das ist nun die Vermeidungsreaktion, die ich gar nicht nachvollziehen konnte, obwohl ich natürlich weiß, dass es zu Hauf solche Menschen gibt. Anstatt hineinzugehen, alles zu erklären und zu fragen, was mit den beiden los ist, verdrückt Alex sich einfach ungesehen und gibt erneut Fersengeld, ohne die Situation klar zu regeln. Ein echter Mehlwurm* also, der den Kopf in den Sand steckt. Da er nun ob der neuen Situation nichts mit sich anzufangen weiß, da er ja eigentlich gar nicht mehr existiert, arbeitet er die Letzte-Wünsche-Listen seiner Freunde im Hospiz ab, die teilweise schon gestorben sind, oder zu krank sind, ihre letzten Wünsche zu erfüllen. Das ist ganz großes Kino und es entstehen wundervolle Szenen, die die Leben der Sterbenden teilweise sogar nachträglich in Ordnung bringen. Erneut wird am Ende Alex zufällig mit seinem Schicksal konfrontiert. Das Ende ist offen, lässt aber durchaus hoffen, dass Alex nun sein Leben endlich in die Hand nehmen wird. Fazit: Absolute Leseempfehlung! Eine sensible, traurige aber auch Hoffnung machende Auseinandersetzung mit dem Thema in Würde Sterben und dem Sinn des Lebens, das keinen einzigen Augenblick in den Kitsch abzugleiten droht. Wenn ich mir verkniffen hätte, den Klappentext zu lesen, wäre sogar überhaupt nichts zu kritisieren gewesen. * Mehlwurm ist ein ganz besonders fieses, sehr regionales Schimpfwort, nicht mal gesamtösterreichisch sondern oberösterreichisch für einen sehr passiven Mann. Es hat eher eine phonetische Bedeutung im Sinne von [Mööh-wuam] und basiert auf dem Spruch. „Du bist koa Mau (Mann) sondern a Mööh-wuam“.