brittaroeder
Absolut unerwartet findet sich die Protagonistin des Romans eines Morgens vom Rest der Welt abgeschnitten vor. Eine unsichtbare Wand hat das Gebiet rund um ein Jagdhaus in den Alpen, in dem sie sich als Gast aufhält, weiträumig eingeschlossen. Alles Leben jenseits dieser Abgrenzung scheint tot zu sein, auf ihrer Seite dagegen ist alles intakt, alle Tiere und sie als einziger Mensch haben überlebt. Soweit die Ausgangssituation von Haushofers Roman aus dem Jahre 1968. Auf den ersten Blick ist Haushofers Roman vor allem eine spannend geschriebene Robinsonade. Ausführlich schildert die Autorin den harten Überlebenskampf der urplötzlich völlig auf sich allein gestellten Frau. Sehr detailliert beschreibt sie wie sich aus ungewohnten absolut neuen Herausforderungen (Jagd, Landwirtschaft, Viehhaltung) allmählich ein harter Alltag herausbildet. Haushofers Präzision erzeugt dabei eine eindringliche Authentizität, deren Sog man sich nicht entziehen kann. Doch ohne Frage ist dieser großartige Roman mehr. Mit der im Mittelpunkt stehenden namenlos bleibenden Protagonistin, aus deren Ich-Perspektive die Ereignisse berichtet werden, gerät die Geschichte zum Entwicklungs- , man mag fast sagen, zum Selbstfindungsroman. Wie verändert sich ihr Verhältnis zu Natur und Tieren? Wie wirkt sich die Einsamkeit aus? Welche Folgen hat der psychische Druck eines täglichen Überlebenskampfes auf sie? Welche Bedürfnisse entwickelt sie? Welche Ängste? Welche existenziellen Fragen stellt sie sich? Haushofer verrät ihren Lesern nur wenig über die Vorgeschichte ihrer Hauptfigur. Die wenigen biographischen Details erfährt man fast beiläufig (Mitte vierzig, seit einiger Zeit Witwe, Mutter zweier inzwischen erwachsener Kinder). Alles was die überlebende Frau mit ihrem bisherigen Leben verband hat auf einen Schlag an Bedeutung verloren. Erstaunlich gefasst nimmt sie ihr Schicksal an und wird als einziger, letzter Mensch auf der Welt exemplarisch zum Repräsentanten der Menschheit. In den wenigen Momenten, in denen sich die Protagonistin rückblickend auf ihr altes Leben besinnt, lässt Haushofer zivilisationskritische Töne laut werden. Man kann sich diesem Roman auf sehr verschiedenen Wegen nähern. Unter den vielen Rezensionen gibt es feministische Interpretationen ebenso wie tiefenpsychologische Ansätze. Auch autobiografische Bezüge lassen sich ausmachen. Doch seine besondere Größe liegt in der Darstellung der Protagonistin, die sich angesichts der Aussichtslosigkeit ihres Schicksals ihr Menschsein bewahrt. „Es gibt keine vernünftigere Regung als die Liebe. — Marlen Haushofer , Die Wand. 2. Auflage. [Hamburg & Düsseldorf]: Claassen, 1968. S. 238