brittaroeder
Was für ein Roman! Der Plot ist in wenigen Worten skizziert: In einer nicht benannten Großstadt treten zunächst vereinzelt Fälle von Erblinden auf. Doch schon bald greift die Blindheit wie eine Seuche um sich und nach kurzer Zeit ist die gesamte Menschheit betroffen. Alles versinkt ins Chaos. Nur eine einzige Person bleibt verschont und um diese eine Frau gruppiert sich nun ein kleine Gruppe, die mit ihr gemeinsam ums nackte Überleben kämpft. Schonungslos akribisch beschreibt der Autor wie die komplette Infrastruktur kollabiert und sich die gesamte Zivilisation zersetzt. Die Starken dominieren über die Schwachen; Recht und Unrecht erhalten neue Maßstäbe. Soweit könnte man von einer der üblichen Dystopien ausgehen, wie es sie häufig gibt. Doch Saramagos Roman ist anders: Anders als üblich bedient sich Saramago keiner genreüblichen großen Effekte. Nichts wird beschönigt, niemand wird idealisiert. Die Bilder, die er heraufbeschwört sind eher beklemmend und hoffnungslos als laut. Niemand kann aus dieser Hölle, die er beschreibt, aus eigener Kraft entkommen. Doch vor allem ist es Saramagos ganz besonderer Erzählstil, der dieses Buch zu etwas Einzigartigem macht. So als ob die Katastrophe alles bisher Gültige hinweggefegt hat, trägt keine einzige Person ihren richtigen Namen, es gibt keine geographischen Bezeichnungen und sogar die Biographien aller werden nur rudimentär angerissen. Hinzu kommt eine Schreibweise, die den Leser zwingt sich auf ein völlig ungewohntes Leseerlebnis einzulassen. Denn Saramago lässt alle Satzzeichen weg, die sonst die wörtliche Rede kennzeichnen. Es ist, als ob die Blindheit, die in diesem Roman alle trifft und alle bisher gültigen Sichtweisen in Frage stellt, auch den Leser herausfordert und ihm eine neue Art der Wahrnehmung aufzwingt. Doch wer diese ungewohnte Distanz erst einmal überwunden hat, wird mit einer Nähe zum Beschriebenen belohnt, die intensiver und eindringlicher ist, als bei den meisten leichter zugänglich geschriebenen Texten. Er sei kein Pessimist, sondern bloß ein gut informierter Optimist, soll Saramago von sich behauptet haben. "Wir stecken alle in der Scheiße. Optimist kann eigentlich nur sein, wer gefühllos, dumm oder Millionär ist." Genau so könnte auch das Fazit dieses Romans lauten. Daran ändert auch der zaghafte Ansatz des Autors nichts, dem Ende seiner Erzählung einen positiven Ausblick zu bescheren. Ja, angesichts des vorangegangenen Horrorszenarios erscheint einem das versöhnliche Ende fast unpassend. Doch da es die grundsätzlichen Fragen, die der Roman aufgeworfen hat, nicht unterwandert, mag man diese fast wunderhafte Wendung dann doch hinnehmen. „Die Stadt der Blinden“ ist ein Ausnahme-Roman, der seiner Leserschaft viel abverlangt. Aber wer sich darauf einlässt wird im Gegenzug mit einem beeindruckenden Lese-Erlebnis belohnt, das lange anhält.