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Taiga-Geheimnisse Es ist nicht ganz einfach Julia Philipps´ Romandebüt "Das Verschwinden der Erde" gattungstechnisch einzusortieren: Literarischer Thriller, wie der Klappentext verspricht? Oder doch eher ein Episodenroman, der den Blick auf das Leben von Frauen im Fernen Osten Russlands lenkt, eine Zustandsbeschreibung der postsowjetischen Gesellschaft, ausgerechnet von einer Amerikanerin, die zuvor ein bißchen für die Moscow Times bloggte? Der Titel erinnert jedenfalls an ein Lied von Wladimir Wyssotzki, dem Sänger und Schauspieler mit der markant-rauen Stimme und poetischen Texten, in denen es mal um Krieg, mal um Berge und Wildnis ging. Wenn dieses Buch ein Thriller ist, dann keiner der vordergründigen Sorte. Ein Kriminalfall bildet gewissermaßen die Klammer der Handlung, die sich über ein Jahr hinweg erstreckt, mit jedem für jeweils einen Monat gewidmeten Kapitel, das eine Frauenfigur ins Zentrum rückt. Manche Nebenfigur oder in einem Satz erwähnte könnte in einem anderen Kapitel im Mittelpunkt stehen. Es ist August und in den Sommerferien, als die beiden Schwestern Aljona und Sofija verschwinden, mitten in der Stadt Petropawlowsk auf der Halbinsel Kamtschatka, die jahrelang militärisches Sperrgebiet war. Der Leser weiß mehr als die Figuren des Romans, die grübeln, was wohl aus den Mädchen geworden ist: Sie stiegen zu einem Fremden ins Auto, einem Mann, der Aljonas Handy an sich nahm, als sie ihre Mutter anrufen sollte. Keine Ausgangslage, die Optimismus auslöst - schon gar nicht, da die Mädchen verschwunden bleiben. Um Verluste und Verlustängste geht es auch in anderen Kapiteln - toxische Beziehungen, ein verschwundener Hund, eine Frau zwischen zwei Männern, gesundheitliche Sorgen. Manche sehnen sich nach der guten alten Zeit des sowjetischen Imperiums mit seinen klaren Regeln, andere nach dem traditionellen Leben und der Pflege ihrer Identität. Die indigene Bevölkerung der Taiga, die teilweise noch immer mit den Rentierherden im Sommer eine nomadische Lebensweise hat, wird von den Russen als fremd wahrgenommen. Der innerrussische Rassismus ist spürbar. Zu den eindrücklichsten Passagen von "Das Verschwinden der Erde" gehören die Landschaftsbeschreibungen von Taiga und Tundra, von der Küste, von dem, was von der indigenen Kultur überdauert hat. Doch es gibt nicht nur die große Leere der Landschaft, sondern auch die große innere Leere vieler der Figuren, die nach Orientierung und Sicherheit suchen, die sich teils selbst verleugnen, die durch Schicksalsschläge ins Straucheln geraten. Erst im vorletzten Kapitel geht es um Marina, die Mutter der verschwundenen Mädchen und erst hier, kurz vor dem Ende, konfrontiert die Autorin ihre Leser mit dem Schmerz und der Hilflosigkeit einer Frau, die jeden Tag damit rechnen muss, dass ein Polizist anruft, um vom Fund der Leichen ihrer Kinder zu berichten - und die dennoch hoffen will. Es ist zugleich das für mich eindrucksvollste Kapitel, in dem sich die russische und die indigene Bevölkerung am ewenischen Neujahrsfest Nurgenek begegnen, in der Nacht, in der traditionellen Legenden zufolge die Toten unter den den Lebenden wandelt. Julia Philipps schreibt klar und präzise, lässt ihren Frauenfiguren einen Rest von Geheimnis und auch das Ende, das hier natürlich nicht verraten werden soll, lässt verschiedene Interpretationen zu. Ihr Debüt macht auf jeden Fall neugierig auf mehr.