evaczyk
Mein Land ist kein Land, es ist der Winter, hat ein kanadischer Dichter einmal geschrieben, und diese Zeilen gingen beim Lesen von Christian Guay-Poliquins Buch "Das Gewicht von Schnee" wie ein Echo durch meinen Kopf. Denn in diesem ungewöhnlichen Roman voll spröder Poesie spielt der Winter und das Überleben zwischen Schnee- und Eismassen eine Hauptrolle. Schon bei den zunächst verwirrenden Kapitelüberschriften - das Buch beginnt mit "38" - kein Fehler bei der Gliederung, sondern die aktuelle Schneehöhe, wie sich nach und nach herausstellt. Und auch wenn der Autor viele eindrucksvolle Wort und Formulierungen findet, um diesen gewaltigen Winter immer wieder neu zu beschreiben, ist "Das Gewicht von Schnee" kein Naturroman, sondern ein distopisches Kammerspiel voll zunehmender Paranoia. Der namenlos bleibende Ich-Erzähler ist in sein Heimatdorf zurückgekehrt, um noch einmal seinen Vater zu sehen. Doch auf dem Weg dahin hatte er einen schweren Unfall, beide Beine sind mehrfach gebrochen, er ist vollkommen hilflos. Fast hätten die Dorfbewohner, die ihn fanden, ihn wie ein verletztes Tier von seinen Leiden erlöst, zumal sie fürchteten, die knappen Medikamente könnten für ihn verbraucht worden. Doch in dem Moment, in dem er als einer der Ihren erkannt wurde, erhält er die Chance zum überleben. Es ist ein Fremder, ein alter Mann namens Matthias, der sich um den Verletzten kümmert - in einem Haus, etwa eine Stunde Fußweg vom Rest des Dorfes entfernt und selbst gestrandet. Er möchte nichts lieber, als wieder zurückzukehren in die Stadt, aus der er gekommen ist, um sich um seine in einem Pflegeheim wartende Frau zu kümmern. Doch das ist nicht möglich: Der Himmel voller Schneewolken hat seit Wochen nicht aufgehört, "das Land zu begraben. Die Welt steht still. Wartet auf den Frühling. Von hier gibt es keinen Ausweg. Die Berge zerschneiden den Horizont, der Wald umzingelt uns von allen Seiten, das Weiß sticht ins Auge." Doch es ist nicht alleine der strenge Winter, der die Dorfbewohner gefangen hält. Die Stromversorgung ist zusammengebrochen, aber wohl auch die öffentliche Ordnung im ganzen Land. Gerüchteweise ist von Plünderungen die Rede in den Städten, von Milizen, von bürgerkriegsähnlichen Zuständen - vielleicht aber gibt es jenseits des eingefrorenen Dorfes, in dem die Lebensmittel immer knapper werden, auch ein besseres Leben. Heimlich arbeitet jeder an seiner Exit-Strategie, auch Matthias, während der Erzähler zunächst zu schwach ist, um überhaupt zu reden oder irgendwelches Interesse an seiner Umgebung zu entwickeln. Als er die Lage erkennt, will aber auch er nicht alleine zurück bleiben. Bis dahin, so schreibt er sei jeder "der Gefangene des anderen". In einer Welt, in der alle Gewissheiten dahin sind und die Natur allemal stärker, können die Einzelnen nur auf ihr Überleben hoffen. Viele der Umstände der Außenwelt bleiben dabei vage, der Erzähler und Matthias gefangen in ihrer Einsamkeit, der wechselseitigen Abhängigkeit in dem entlegenen Dorf und der Hoffnung, am Ende zu überleben. Der Winter steht dabei für die Schönheit und Brutalität des Lebens an sich. Nicht nur das isolierte (Über-)leben in einem verlassenen Haus - eigentlich nur seiner Veranda, die ist leichter zu heizen) schafft eine klaustrophobische Atmosphäre, in der menschliche Nähe und gegenseitiges Belauern gleichermaßen im Spiel sind. Für diese verstörende Schönheit voller Ängste hat Guay-Poliquin mit "das Gewicht von Schnee" die passende Sprache gefunden.