awogfli
Selten habe ich mir so gewünscht, ich hätte in meiner Beurteilung die Möglichkeit, wie beim Eistanzen zwei Noten zu vergeben. Da wäre einmal die A-Note, die Pflicht des Romans, die David Schalko im Rahmen der Plotgestaltung und der liebevollen Figurenentwicklung meiner Meinung nach ordentlich vergeigt hat. Aber dann sollte es eben genau in diesem Fall auch noch die B-Note, die Kür und den künstlerischen Ausdruck geben, die in dieser Geschichte die Sprachfabulierkunst und die Dialoge bewertet, denn das war so abgefahren sensationell, dass mein Buch wie ein gelber Käseigel mit Post-its gespickt ist. Aber nun zum Inhalt der Geschichte. Also in Bad Regina stehen schon fast alle Häuser leer. Nur eine kleine verschworene Gemeinde der Sitzenbleiber, der intensiv mit der Heimat Verwurzelten, respektive mit ihr Zusammengewachsenen, der passiv-aggressiven Be- und Ausharrer und meist auch der nicht grad lebensfähigsten Individuen, die sich mangels Alternativen einfach nicht bewegen konnten, wehrt sich widerspenstig gegen die Okkupation eines chinesischen Immobilienspekulanten namens Chen. Dabei stimmt irgendetwas nicht mit diesem Chinesen. Er macht allen Hausbesitzern unmoralische Angebote, wenn Stadtbewohner ihr Anwesen verkaufen, schleichen sie bei Nacht und Nebel davon, werden nie wieder in Bad Regina gesehen, nicht mal bei ihren verbliebenen Verwandten. Chen verwertet auch jahrelang die gekauften Immobilien nicht, sie werden weder weiterverkauft, noch vermietet, noch umgebaut, sie stehen einfach leer herum, verfallen und verfaulen. Mittlerweile ist das Stadtzentrum schon so entvölkert, dass die Gemeinde zu sterben droht. Das hier beschriebene dahinsiechende Bad Regina, das schön langsam zerbröckelt und auseinanderfällt, sowohl bausubstanztechnisch als auch vom psychischen Zustand der letzten verbliebenen Bewohner her, erinnert frappant an die Stadt Bad Gastein. Ich dachte eigentlich an das alte Bad Gastein der 80er- und 90er-Jahre, denn ich war ja schon ewig nicht mehr dort, und glaubte, das hat sich mittlerweile geändert, aber ich habe grad aktuelle Fotos von einer Freundin bekommen, die seit letzter Woche kurtechnisch dort weilt und musste feststellen: Das reale Bad Gastein im Jahr 2020 fällt noch immer auseinander und ist Bad Regina ähnlicher als ihm lieb ist. Protagonist Othmar ist einer der eher nicht lebensfähigen Sorte der Einwohner, der es sogar im Ausland versucht hat, aber vor allem privat episch gescheitert ist. Er bestreitet seinen Lebensunterhalt mit der Pflege und dem Pflegegeld eines bekannten Londoner DJs, den er vor vielen Jahren in den noch touristisch guten Partyzeiten besoffen und bekifft nach einem Rave in Bad Regina zum Nachtschifahren animiert hat und der nun infolge des unvermeidlichen Schiunfalls schon ewig in katatonischem Zustand weilt. Übriggeblieben in der Stadt sind auch noch der rechtsdrehende korrupte Bürgermeister Heimo Zesch samt Frau, Mutter und Teenagersohn, der einzige Gastwirt im Ort samt Frau, Selma, die Geliebte von Othmar mit ihrer Teenagertochter, der Bahnhofsvorsteher Grün mit Frau und dem einzigen kleinen Kind in Bad Regina, der Pfarrer und Beichtvater der Stadt, der Zahnarzt Schandor jun., eine Pflegerin und noch ein paar Hansln, die ich meist gar nicht auseinanderhalten konnte. Dafür, dass kaum noch Leute in Bad Regina wohnen, ist beim Personal in dieser Geschichte ganz schön viel Gewusel, sehr viele Personen aus der Vergangenheit werden ständig hervorgezerrt und präsentiert, leider sind aber die wenigsten Figuren inklusive der Bewohner genau und liebevoll beschrieben, also tief entwickelt und ergo kaum unterscheidbar, sie flattern irgendwie nur so vorbei. Die österreichische Tageszeitung Der Standard hat den Roman sogar kurz und knackig als Wimmelbild mit Nazis bezeichnet, das trifft den Nagel auf den Kopf. Jetzt könnte man ja sagen, dieses Figurenvergessen wäre ein persönliches Manko von mir, aber ich habe auch bei TC Boyles Figurengewimmel in Wassermusik nie den Überblick verloren. Lediglich bei Hundert Jahre Einsamkeit musste ich auf Seite 200 aufgeben, die Verwandtschaftsverhältnisse und die Personen punktgenau zu identifizieren, aber ich glaube das ging vielen so. Leider bremsen diese flachen Personenbeschreibungen auch den Fortschritt des Plots, der einfach nicht und nicht in Schwung kommen will. Dabei sind das prinzipielle Setting und die Kerngeschichte, die hinter dem Verhalten des Chinesen Chen stecken, sogar richtig spannend. Denn Chen ist ein Strohmann für Jemanden, der nichts Gutes mit Bad Regina vorhat. Wenn sich im Vorfinale nun alles auflöst, alle Rechnungen der Vergangenheit aufs Tapet kommen und transparent für alle ersichtlich addiert werden, ergibt die ganze Geschichte, die fast schon einen Krimi darstellt – obwohl sie zäh wie Sirup ist – endlich einen konsistenten und auch sehr gefinkelten Sinn. Das eigentliche Finale, respektive der Nachgang nach der Krimiauflösung war für mich dann wieder recht unspektakulär, langweilig und wenig nachvollziehbar. Irgendwie habe ich die Geschichte schon als Mehrteiler verfilmt vor meinem Auge gesehen, dann dürfte das mit den Figuren auch funktionieren, denn dafür ist der Cast verantwortlich. Kein Wunder, die Stärken von Schalko liegen im Drehbuchschreiben. Warum ich glaube, dass eine Verfilmung von Bad Regina trotz der Schwächen ein riesiger Erfolg werden wird? Das ist einfach erklärt, die Dialoge, die Dialoge sind so grandios, so ausgeflippt, bösartig und tiefsinnig, dass man sie teilweise seitenlang abmalen und auswendig lernen möchte. Hier sind wir nun punktgenau bei meiner B-Note angekommen, die ich mit 6.0, 6.0, 6.0, 6.0 festlegen werde. Mir war irgendwann wurscht, WER WAS sagte, sondern ich beurteilte über große Strecken nur noch WAS gesagt wurde, das war für mich das einzig Wahre. In diesem Zusammenhang spielt mitunter auch eine gefakte Lederhose von Thomas Bernhard eine gewisse tragende Rolle, die um mehrere tausend Euro ersteigert in Bad Regina landet und die das Ihrige tut, indem sie sich auf die Genialität der Dialoge auswirkt. Wann immer diese unechte Lederhose, die nicht mal von einem Original-Ohlsdorfer versteigert wurde, im Raum ist, mutieren die Bewohner von Bad Regina inspiriert vom alten grantelnden Bernhard zu sehr klugen Analysten der Gesellschaft und zu sehr kreativen Österreichbeschimpfern. Es ist fast so, als wäre der Profi-Querulant aus Ohlsdorf 2020 moderner wiederauferstanden. "Es gibt keinen Chinesischen Nazi. Es gibt nur den österreichischen Nazi. Selbst der deutsche Nazi ist kein Nazi. […] In Österreich kommt man hingegen als Nazi zur Welt. Der Österreicher war schon Nationalsozialist, bevor Hitler kam. Schon unter den Habsburgern war der Österreicher ein Nationalsozialist gewesen: In Österreich ist jeder ein Nazi. Über acht Millionen Einzelfälle! Und jeder in den Hass verliebt. Sei es gegen die anderen oder gegen sich selbst. […] Der Österreicher hat zu allem ein schlampiges Verhältnis. Alles, was er tut, passiert, um etwas zu kaschieren. Im Gegensatz zum Deutschen, der versucht, alles richtig zu machen. Der Österreicher macht alles falsch. Und das mit allergrößter Lust." Dieser kleine Absatz stellt übrigens nur einen Auszug dar, das geht seitenweise so dahin und wird als philosophisches Sinnieren und Bonmot von vielen Figuren in die Unterhaltungen eingeworfen, je nach Alkoholpegel natürlich intensiver. Vor allem wenn Bernhards Hose anwesend ist. Aber auch abseits des Österreich-Bashings sind manche Beschreibungen und Analysen höchst vergnüglich: "Wobei er einen sehr pragmatischen Zugang zu Apokalypsen pflegte. Heimo machte beispielsweise die Klimaapokalypse größere Angst als die Migrationsapokalypse. Nicht nur wegen des Wetters, sondern auch, weil dadurch noch mehr Migranten kämen. Also negierte er sie. Und konzentrierte sich voll auf die Flüchtlinge. Zwei Apokalypsen waren ihm einfach zu viel. […] Und die Migrationsapokalypse – das begriff auch Heimo – war eine Ersatzapokalypse, weil gegen das Wetter konnte man nichts ausrichten. Am Wetter waren alle schuld. Es ließ sich nicht personifizieren. Und Heimo war ein Humanist. Er brauchte Menschen. Er brauchte jemanden, der schuld war." Das ist wirklich die kurioseste Definition von Humanismus, die ich bisher gesehen habe. Zudem gibt es natürlich unzählige pöhse Anspielungen auf real lebende Personen wie Politiker, Kabarettisten und sogar auf den schwulen Bruder vom Kaiser Franz Josef, denn alle in der Gegend a bissi respektlos Luziwuzi nennen. Das ist sogar historisch belegt. Da habe ich wieder etwas gelernt. Fazit und Endabrechnung: Wenn jemand schwer über den nicht vom Fleck kommenden Plot und die flachen Figuren hinwegkommt, sollte er/sie das Buch auf keinen Fall lesen. Alle, die sich einfach ziemlich stark ausschließlich auf die Dialoge fokussieren können, werden das genießen und kriegen kurz vor Ende sogar auch noch eine schlüssige Hintergrundgeschichte serviert. Ich fand den Roman in der Gesamtbeurteilung gar nicht so schlecht, da ich die Dialoge und die pöhsen Analysen geliebt habe. Dieses Mal weiche ich von meiner Bewertungsmaxime, Inhalt vor Form und Stil zu setzen, ab und locke exakt 3,5 Sterne ein, die ich aber abrunde, da man hier keine halben Sterndln vergeben kann.