awogfli
Bei Atwoods Weiterführung der Geschichte des Bestsellers Der Report der Magd stellen sich einige Leser vorab zwangsläufig die Frage: Kann man das Buch auch lesen, wenn man den Vorgängerroman nicht gelesen hat? Die Antwort lautet. Ja man kann, aber man sollte nicht. Es wird langweilig und ein bisschen unverständlich sein, denn als Leser*in versteht man das zu Grunde liegende Konzept der theokratischen Diktatur namens Gilead und die Funktionen und den Aufbau der gesellschaftlichen Kasten wie: Kommandanten, Ehefrauen, Mägde, Marthas, Tanten, Wächter, Engel, Ökonos etc. nicht und das System wird auch nicht erneut ausführlich erklärt. Insofern hat man, wenn man mit den Zeuginnen einsteigt, enorme Kontextverluste, die bei Vorkenntnis des Reports nicht entstehen, da sofort das Kopfkino anspringt. Wenn man nur die Staffel 1 der Serie gesehen hat, reicht das auch, um Die Zeuginnen genießen zu können, denn Der Report der Magd wurde sehr authentisch verfilmt. Die Handlung startet fünfzehn Jahre nach dem Report und wird aus drei Sichten und zu Beginn auch in drei Handlungssträngen erzählt, die am Ende sehr klug zusammenlaufen. Aus der Sicht der strengen Tante Lydia, die wir schon aus dem ersten Roman kennen, aus der Sicht von Agnes, einem jungen Mädchen aus Gilead, das gerade zur Ehefrau eines Kommandanten ausgebildet wird und aus der Sicht eines anderen jungen Mädchens außerhalb von Gilead aus Kanada, deren Herkunft aber unklar ist. Dieses kanadische Mädchen ist sehr behütet, schon fast überbeschützt aufgewachsen und möchte an seinem sechzehnten Geburtstag entgegen dem ausdrücklichen Verbot seiner Eltern Neil und Melanie an einer Demonstration gegen Gilead teilnehmen. Dieser Tag verändert alles im Leben der Jugendlichen, denn eine Autobombe tötet die Eltern. Eine Freundin der Familie nimmt sie mit auf die Flucht und eröffnet ihr, dass sie eigentlich aus Gilead stammt, Neil und Melanie nicht ihre leiblichen Eltern sind und ihre ursprüngliche Identität die vom theokratischen Staat schon lange gesuchte Nicole darstellt. So plätschert die Handlung in den drei Strängen und den Sichten recht ereignislos und relativ lang dahin, was ich als kleinen Kritikpunktpunkt am Roman anführen möchte. Er kommt einfach etwas zu lange nicht in Schwung. In Gilead will Agnes ihren zugeteilten Kommandanten Judd nicht heiraten und ihre Freundin Becka versucht sogar, sich ihre Pulsadern mit der Gartenschere aufzuschlitzen, um ihrer Ehepflicht zu entgehen. Beide Mädchen werden von Tante Lydia gerettet, die ihnen die Aufnahme in die Kaste der Tanten ermöglicht. Ab der Hälfte des Romans wird die Handlung dann plötzlich sehr spannend, denn in den Aufzeichnungen von Tante Lydia befindet sich eine detaillierte Beschreibung, wie die Putschisten, die Kommandanten, die Macht an sich rissen und wie sie sie manifestiert haben. Minutiös beschreibt Tante Lydia wie sie von einer Richterin in der Vor-Gilead-Aera innerhalb kürzester Zeit zu einer der grausamsten Unterstützerinnen des neuen Regimes gemacht wurde. Und diese Geschichte ist vom Standpunkt der Machtausübung her sehr interessant, aber auch extrem grausam. Die ehemalige Richterin wird von einem Tag auf den anderen verhaftet, wochenlang in Einzelhaft von den Kommandanten und Wächtern gefoltert, anschließend belohnt und durch ein Kollaborationsangebot total korrumpiert. Sie muss mit anderen Frauen auf Kolleginnen schießen, manche der Schützinnen haben Platzpatronen in ihren Gewehren, aber keiner weiß wer, alle werden mitschuldig gemacht. Wenn eine Frau nicht mitmachen will, ist ganz klar, dass sie in der nächsten Runde vor den Gewehrläufen steht und erschossen wird. Das ist dieselbe Strategie, die die aztekische Oberschicht bei den Menschenopfern anwandte: Wenn wirklich alle Mitschuld tragen und beim Menschenopfer mitmachen, ist ein terroristisches System weitaus stabiler, weil keiner mehr die moralische Überlegenheit hat, irgendetwas zu kritisieren. Tante Lydia fügt sich vordergründig in ihr Schicksal, macht mit und steigt sogar als Musterschülerin in diesem Terrorsystem auf, aber sie vergräbt ihren unversöhnlichen Groll ganz tief in ihrer Seele. Wie eine Spinne wartet sie Jahrzehnte auf die Möglichkeit, Gilead und den verantwortlichen Kommandanten alles heimzuzahlen, denn sie ist sich sicher, man hat sie damals beim Putsch gezwungen, ihre hochgeschätzte Arbeitskollegin zu erschießen. In der Zwischenzeit sammelt sie akribisch belastendes Material gegen alle und jeden in Gilead, nützt dieses aber sehr, sehr klug und nur in homöopathischen Dosen für einige Intrigen. Im ersten Roman, dem Report, wird also gezeigt, wie das Terrorregime Gilead im täglichen Ablauf und in der Gesellschaftsstruktur funktioniert, in den Zeuginnen wird nun aber schlüssig erklärt, wie der Putsch im Detail zu Stande gekommen ist und wie die Unterdrückung aller Frauen und die Macht der Kommandanten manifestiert wurde. Da waren im Report schon einige Hintergrundinformationen, die mir bisher gefehlt haben und die nun in den Zeuginnen nachträglich aufgedeckt werden. Zu Beginn hätte das System der theokratischen Diktatur recht einfach gekippt werden können, eigentlich hätten nur die Mägde vereint die Diktatur stürzen müssen, denn sie waren durch ihre Fruchtbarkeit zu wichtig, um alle getötet zu werden. Aber das hätten sie halt wissen müssen, dass Kinder so wichtig sind fürs Regime. Die Mägde waren auch diejenigen, die am meisten der Folter, den Repressalien und der Einschüchterung ausgesetzt waren. Bedauerlicherweise ja mit Mithilfe der Frauen, respektive der korrumpierten Tanten. Nach dem System „teile und herrsche“. Die auf Rache sinnende Tante Lydia hat aber über die Jahre eine weitere Strategie gefunden, Gilead von innen heraus zu zerstören, denn absolute Macht korrumpiert auch die Machtinhaber absolut, indem sich die Kommandanten nicht mal an ihre eigenen theologischen Regeln halten wollen. So grausam, menschenverachtend und religiös verblendet die Regeln der Diktatur auch sein mögen, es gibt auch für die allmächtigen Männer und Kommandanten ein paar wenige religiöse Regeln und Grenzen, die sie nicht überschreiten dürfen, vor allem weil sie sie ja selbst für alle aufgestellt haben. Es ist sehr menschlich, aber eben nicht klug, in einem Staat, der nach den verdrehten menschenverachtenden Regeln sich trotzdem den Anschein gibt, als wäre er ein Rechtsstaat, nach dem Motto: „Quod licet iovi non licet bovi (wortwörtlich übersetzt: Was Jupiter erlaubt ist, ist dem Rindvieh nicht erlaubt)“ zu agieren. Wie eine tödliche Schwarze Witwe spinnt Tante Lydia in einem sehr klugen Plan ein atemberaubendes Netz an Intrigen, in dem alle bisher im Roman eingeführten Figuren wie in einem außerordentlich gefinkelten Schachspiel aufgestellt werden, innerhalb ihrer rechtlichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten für die geniale Strippenzieherin agieren und nach und nach der König, der Kommandant Judd und ganz Gilead, Schritt für Schritt schachmatt gesetzt werden. Das ist ganz großes Kino und bezieht auch Figuren aus dem Report mit ein, denn die Verflechtungen der Protagonistinnen dieses Romans bergen einige Überraschungen. Mehr möchte ich nun zum Plot nicht mehr verraten, denn sonst müsste ich spoilern. Das ist Rache, so eiskalt serviert, dass man sie in Flüssigstickstoff gepackt hat. Auch die politischen moralischen Implikationen der Geschichte und die Schwächen, beziehungsweise langfristigen Sollbruchstellen von unmenschlichen Diktaturen werden punktgenau in den Plot eingefügt. Gesellschaftskritik auf höchstem Niveau. Fazit: Von mir definitiv die wärmste Leseempfehlung, auch wenn der Roman am Anfang einfach ein bisschen zu wenig in Schwung kommt. Ab der Mitte ist er rasant und einfach großartig, also habt bitte ein bisschen Geduld mit ihm.