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Erinnerung, Manipulation und Mord Der kanadische Krimiautor Martin Michaud stürzt sein Ermittlerduo ebenso wie seine Leser in ein vielschichtiges Puzzle mit dem Roman "Aus dem Schatten des Vergessens". Spannend ist der mit 640 Seiten nicht gerade schmal geratene Band durchaus. Allerdings wäre an mancher Stelle weniger mehr gewesen, denn während Verschwörungstheoretiker ihre helle Freunde haben dürften, wirkt für alle anderen manches sehr weit hergeholt. Dass ausgerechnet der Mord an John F. Kennedy mit Verbindungen in die frankokanadische Provinz Quebec den Schlüssel zur Lösung einer Mordserie bieten soll - na ja. Und wenn wir schon mal beim Thema Plausibilität sind - Michaud gehört offensichtlich zu den leicht sadistisch veranlagten Autoren, die ihren Hauptfiguren ein geballtes Maß an Schicksal, Gewalt und Seelenleid aufbürden, vermutlich um sie um so interessanter zu gestalten. Victor Lessard, Mordermittler aus Montreal, ist auch so einer, wenn auch der größte Teil seiner dramatischen Vorgeschichte in vorangegangenen Romanen spielte und er hier nur mit diversen körperlichen und seelischen Blessuren davon komnt. Dafür ist Victor aber offenbar trotz fortgeschrittenen Alters ein Magnet für supersexy schöne und meist deutlich jüngere Frauen ist. Tja. Ist der Autor da noch spätpubertär oder schon midlifekrisengeschüttelt? Das ist mal wieder alles wie aus dem richtigen Leben. Und wie um den Kontrast noch größer ausfallen zu lassen, ist Victors Partnerin Jacinthe eine ständig futternde, übergewichtige, cholerisch veranlagte lesbische Frau, die als Mensch allerdings eher blass bleibt. Allerdings geht Michaud nicht nur mit der Holzhammermethode vor, zum Glück. Sowohl der Titel als auch das Leitmotiv - die Suche nach verlorenen Erinnerungen, die Frage manipulierter oder gelöschter Erinnerungen - dürften auch ein Stück weit an das "je me souviens" (ich erinnere mich) anspielen, dass als Motto der Provinz auf allen Autoschildern Quebecs steht, an die historischen Konflikte mit der anglokanadischen Mehrheit. Auf manches wird im Text sogar angespielt, aber ich fürchte, wie wohl viele deutsche Leser weiß ich einfach zu wenig über (franko-)kanadische Innenpolitik. Für das Lesen von "Aus dem Schatten des Vergessens" ist das auch gar nicht einmal nötig, denn für die Montrealer Ermittler geht es zunächst darum, was die Morde an einer renommierten Psychologin und dem Seniorpartner einer ebenso renommierten Anwaltspraxis mit dem Selbstmord eines bipolaren Obdachlosen zu tun haben, bei dem die Brieftaschen der Toten gefunden wurden. Dass die Lösung des Falls in der Vergangenheit liegt, macht eine weitere, in der Vergangenheit spielende Erzählebene klar, wobei erst sehr spät Licht ins Dunkel kommt. Viele Themen, in denen es etwa um Einfluss und Verflechtungen von Geheimdiensten, Politik und Wirtschaft geht, um die Manipulation von Wahrnehmung, um moralischen Kompass und ethische Konflikte, sind spannend und aktuell. Wer schon einmal in Montreal war, kann sich über viel Lokalkolorit und Ortsdetails freuen. Etwas kompakter und etwas weniger verschwörerisch hätte dem Roman allerdings gut getan.