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awogfli

Posted on 29.12.2020

Ich durfte die sympathische Autorin Raphaela Edelbauer während einer Lesung in Langenlois kennenlernen und mit ihr auch noch anschließend bei einem Glas Wein in der Gartenbauschule über die Hintergründe zu diesem Buch ausführlich plaudern. Die im fast schon dystopischen Roman dargestellte, von jeglicher Umwelt abgeschottete Ortschaft, Groß Einland, weist nämlich sehr viel Bezug zur Hinterbrühl in der Gemeinde Mödling und der dort ansässigen Seegrotte auf, die ursprünglich ein Gipswerk war und ab 1944 als KZ-Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen geführt wurde. Während der Auflösung des Lagers 1945 verschwanden dort tatsächlich Häftlinge unter mysteriösen ungeklärten Umständen. Zweiundfünfzig Insassen wurden vor Ort ermordet und in einem Massengrab verscharrt. Details zu den historischen Ereignissen findet ihr unter https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/KZ-Au%C3%9Fenlager_Hinterbr%C3%BChl . Im Roman von Edelbauer, fusioniert das Dorf Hinterbrühl mit der Seegrotte, ein bisschen mit der Bezirkshauptstadt Mödling von der Größe des mittelalterlichen Stadtkerns her und bezüglich des Namens mit einer dort auch ansässigen Ortschaft, Einöd, die so wie sie in einem tiefen Tal liegt, von der Umwelt, abgeschnitten ist, dass nicht einmal Mobiltelefone und Radios funktionieren, geschweige denn eine ordentliche Busverbindung existiert – also tatsächlich ein Ort, der heutzutage mehr als jedes Bergbauerndorf am Ende der Welt ist– zu Groß Einland. Soviel zu den Hintergründen und der Entstehung des Romans und dem sensationellen Setting dieser Geschichte. Die Phyiskerin Ruth aus Wien, muss ihre Eltern beerdigen, die bei einem Autounfall gestorben sind und die in ihrem Heimatdorf Groß-Einland begraben werden wollten. Ruth hat die Heimat der Eltern nie kennengelernt und weiß nicht einmal, wo diese abgeschiedene Ortschaft, die auf keiner Karte verzeichnet ist, zu finden wäre. In einer längeren kreisförmigen Odyssee, in der sie aus Geschichten der Kindheit Hinweisen nachgeht, wo sich die Ortschaft befinden könnte, endet sie dann doch per Zufall, weil sie auf einer kleinen Tankstelle den Namen Groß-Einland aufgeschnappt hat und dem Autofahrer gefolgt ist, am Zielort ihrer Reise. In der Ortsgemeinschaft, die sich sehr von der Außenwelt separiert, wird sie trotzdem recht wohlwollend von den Bewohnern aufgenommen, bekommt sogar ein Jobangebot von der Gräfin, die dort alles zu bestimmen scheint und ein Haus zum Kauf auf Kredit angeboten, das sich sehr schnell als ihr Elternhaus herausstellt. Im Gegenzug dazu ist sie eine Verpflichtung gegenüber der Gräfin eingegangen, die vom Einsturz bedrohte Ortschaft, die schon seit langem mit dem LOCH kämpft, irgendwie durch ihre Kenntnisse als Physikerin zu retten. Das mit dem Begräbnis der Eltern hat sich auch erledigt, denn als sich Ruth endlich dazu aufrafft, diese Angelegenheit zu erledigen, sind die Eltern bereits seit mehr als einer Woche in Wien begraben worden. Habe mich schon gewundert, dass Leichen so lange unbeerdigt sein dürfen. "Die ganze Innenstadt war wie eine zerteiltet Torte in vier Quadranten zerschlagen, die man durch Mauern voneinander abgetrennt hatte. Also gab es vier Viertel, die sich optisch teilweise gravierend voneinander unterschieden und die ich nun im Urzeigersinn erkundete. Groß-Einland war von unfassbarer Schönheit, ähnlich der Kulisse eines Mittelalterfilms, in dem die Hochphase des Handwerks an makellosen Fassaden entlang ausgewiesen wird. Überall saßen die Menschen fröhlich plaudernd auf den Pflasterstraßen und tranken ihre Spritzer, obwohl es herbstlich kühl war. Man konnte sich der Idylle nicht entziehen. Natürlich stieß mir das Konservative ungut auf, wie immer - vieles an den sozialen Zusammenstellungen glich einer Wahlwerbung." Das sogenannte Loch, das die fiktive Ortschaft zu verschlingen droht, ist ebenso ein ehemaliges Bergwerk in dem auch KZ-Häftlinge gearbeitet haben. Wie mit den historischen Ereignissen in der Hinterbrühl stimmen auch im Roman die Vermutungen überein, dass nicht nur die offiziell hingerichteten (im Buch sind es 34 in der Geschichtsschreibung sind es 52) Opfer existieren, sondern dass auch mehr als 800 Leute irgendwie verschwunden sind. Da es ja gar nicht so viele Wärter gab, die das Massaker anrichten hätten können, munkelt man im Roman, dass auch die Ortschaft an den Tötungen beteiligt sein könnte. So etwas hat man in der Realität auch in der Hinterbrühl in Edelbauers Jugend geraunt und selbstverständlich ständig vertuscht und das war auch einer der Anlässe der Autorin, genau diesen Roman zu schreiben. Die historischen Ereignisse findet Ruth bei der Recherche ihrer Familiengeschichte und der Geschichte des Ortes heraus, inklusive dem Umstand, dass auch ihre Eltern diesbezüglich recherchiert haben und ihr Autounfall möglicherweise gar kein Unfall war. Die gesamte Ortsgemeinschaft scheint immer alles zu vertuschen und zuzudecken, die Geschichte und auch das Loch aus dem kollektiven Gedächtnis auszublenden. Zudem schwappen ja alle paar Jahre durch die massiven Bodenbewegungen Skelette unbekannter Opfer an die Oberfläche in die Gärten und in die Keller der Häuser, die mit dem Loch verbunden sind. Wie man mit diesen Leichen umgeht, ist unterschiedlich, manchmal werden sie totgeschwiegen – was für eine Analogie – oder manchmal auch als aktuelle Opfer bezeichnet und die Täter, die nur zufällig dort wohnen oder die Kinder der wahren Täter sind, werden dann ohne genauere Untersuchung zur Rechenschaft gezogen. Die sogenannte Gräfin, die eigentlich nur eine Industriellentochter war, deren Familie das Bergwerk gehörte, ist überhaupt Dreh- und Angelpunkt aller Entscheidungen im Dorf und Mastermind aller Vertuschungen. Sobald irgendwo ein Skelett gefunden wird, kauft sie die Häuser auf und verhindert eine genauere Untersuchung des Vorfalls, sodass sich die Bevölkerung nicht mit der Vergangenheit des Ortes auseinandersetzen muss. Nach einer gewissen Zeit, es dürfte sich um mehr als zwei Jahre handeln – so genau weiß man das als Leserschaft nicht, denn die Zeit scheint in Groß Einland zähflüssiger zu verlaufen – eskaliert die Situation mit dem Loch und die gesamte Ortschaft droht einzustürzen: zuerst einzelne Häuser dann einige Ortsteile und bald auch der Hauptplatz und die Kirche. Ergeben fügen sich die Bewohner in ihr Schicksal, versuchen das Loch zu ignorieren und ihr gewohntes Leben mit den Widrigkeiten und durch Vertuschung weiterzuleben. Inzwischen hat Ruth heimlich auch ein Mittel zur Stabilisierung gefunden, und ihr eigenes Haus damit abgesichert. Sie zögert aber, dies der Gräfin und dem Ort gemäß Auftrag aus zweierlei Gründen mitzuteilen: erstens würde das Füllmaterial die Opfer im Loch gänzlich verschwinden lassen und zweitens tötet die Füllung alle Pflanzen, was zu einer ökologischen Katastrophe führen würde. Trotz allem kommt die Wahrheit ans Licht, da Ruths Haus wie ein Fels in der sonst so zerstörten Ortschaft steht. Im Finale des Romans ist eine große Aktion mit anschließender Füllung des Lochs mit Ruths Material und mit Beteiligung der gesamten Ortschaft geplant, die in ihrer Absurdität der Konzeption des Festaktes frappant an die große Parallelaktion von Musils Mann ohne Eigenschaften erinnert. Groß Einland will die Abschottung beenden und in einer PR-Offensive Journalisten und Touristen aus Wien zu einem gigantischen Fest einladen, um die sensationellen Errungenschaften des Ortes der ganzen Welt zu präsentieren. Das Ende des Romans verpufft bedauerlicherweise sehr, ich hätte mir ein furioses Finale gewünscht. Zwischendurch als die Verwerfungen und Einstürze, die der sich bewegende Boden in der Ortschaft angerichtet hat, wirklich auch gar zu detailliert bis zum letzten Exzess beschrieben werden, hatte ich auch das Gefühl, dass die Geschichte einige Längen aufweist. Ansonsten war ich recht begeistert, weiß aber gar nicht, was ich da für einen schrägen Genre-Mix vor mir habe: Sektion eines Kleinstadtbiotops mit all seinen Verflechtungen, a bissal Krimi vielleicht sind die Eltern der Protagonistin ermordet worden, a bisserl Fantasy, der Ort ist abgeschieden und unerreichbar, das Loch unter dem Ort verschlingt vieles und letztendlich eine Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheitsaufarbeitung. Wahrscheinlich hat die Autorin einige Anleihen bei Elfriede Jelineks Kinder der Toten genommen, was ich nicht beurteilen kann, da ich dieses Buch noch nicht gelesen habe und sich ein bisschen von Musil inspirieren lassen. Auf jeden Fall ist das Werk ein sehr innovativer Mix, der in der Mitte und am Ende einige Spannungsdefizite aufweist. Sprachlich hat mir der Roman sehr gut gefallen. Fazit: Eine Leseempfehlung von mir, ein guter Roman mit ein paar plotmäßigen Schwächen.

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