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awogfli

Posted on 24.12.2020

Frauenpower präsentiert von einer Powerfrau In ihrer sehr spannenden Autobiografie Lebenswerk, die eigentlich durch die vielen Hintergrundinformationen und treffsicheren Analysen zum gegenwärtigen Zustand des Feminismus gleichzeitig auch als Sachbuch zum Kampf um Teilhabe der Frauen seit den 70er-Jahren zu sehen ist, geht es um die öffentliche Alice Schwarzer ab dem Zeitpunkt, als sich die Journalistin für jeden sichtbar als Feministin positioniert hat. Wer schwerpunktmäßig an ihrer Biografie bis zu diesem Zeitpunkt, also an ihrer Jugend und ihrem Werdegang, interessiert ist, sollte das 2012 bei Kiepenhauer & Wietsch erschienene Buch Lebenslauf wählen. Wie in so vielen Werken und Artikeln von Alice Schwarzer geht es natürlich immer auch abseits ihrer Person um eine tiefergehende und auch historisch hergeleitete Analyse des Zustandes unserer Gesellschaft. Sehr spannend war ihre Sicht auf den neuen „Generationenkonflikt“ zwischen Altfeministinnen und den Jungfeministinnen und mit neuen Strömungen der Woken-AktivistInnen, die alles dem angeblich viel wichtigeren Thema des Rassismus unterordnen. Sie setzt diese Zurückdrängung von Frauenanliegen und Unterordnung dieser Anliegen unter einem viel wichtigerem Dach, unter dem sich dann natürlich auch die Gleichberechtigung von selber erledigen soll, in den historischen Kontext und ist sich sicher, dass hier schon wieder einmal Frauen und Frauenanliegen instrumentalisiert und missbraucht werden. Schon in der Französischen Revolution, im Kommunismus und während der iranischen Revolution bediente man sich des Frauenkampfes oder auch im Zweiten Weltkrieg bediente man sich der Arbeitskraft, nur um sie dann nach erfolgreich geschlagener Schlacht wieder nach Hause an den Herd zu schicken oder noch schlimmer, sie zu Hause einzusperren. Dieses Muster und Spiel der leeren Versprechungen und Unterordnung von Frauenanliegen unter etwas Wichtigeres, auf das die Frauen immer wieder hereinfallen, wird ihrer Meinung nach im Bereich des Rassismus nicht anders funktionieren. Spannend war auch, dass die ärgsten, erbittertsten Feinde der Feministinnen und Kontrahenten gegen echte Frauenanliegen seit Anbeginn von solchen Bewegungen immer die revolutionären, progressiven, die linken Männer sind, die zwar für viele Rechte kämpfen, aber nicht für die Gleichberechtigung der Frauen. Nicht dass die konservativen Männer viel besser wären, aber sie sind einfach immer ahnungsloser, was ihnen von starken Frauen blüht. So beschreibt sie die Situation der 70er-Jahre und setzt sie dann auch noch in den historischen Kontext. Bleiben wir zunächst einmal bei den Männern. Es waren nicht die politisch konservativen oder rechten Männer, die als Erste zurückschlugen – die hatten zu dem Zeitpunkt das Ausmaß des Frauenaufstandes noch gar nicht gerafft – es waren die fortschrittlichen, die liberalen, und linken. Es waren unsere eigenen Männer. Wir hatten die Illusion gehabt, dass gerade sie an unserer Seite sein werden. Was naiv war. Denn gerade sie waren ja die ersten „Opfer“ des Feminismus. Es waren ihre Frauen, die keinen Bock mehr auf Spülen hatten; ihre Frauen, die nicht länger automatisch sexuell zur Verfügung standen. Und es waren ihre Frauen, die sich nun auch noch zu allem Überfluss manchmal in ihre beste Freundin verliebten. So werden Schritt für Schritt, eigentlich ganz untypisch für eine Biografie, Schwarzers Grundthemen und Lieblingsanliegen nach und nach abgearbeitet, sowohl in einen historischen als auch in brandaktuellen Kontext gesetzt und mit ihren persönlichen Erfahrungen garniert. Beim Thema Haushalt, Frauenarbeit und Männerarbeit analysiert sie die Situation vor der Wiedervereinigung und danach und geht natürlich topaktuell auf die Situation des Homeoffices während Corona ein. Mein Mann steht übrigens auf der Liste der bedrohten Arten, weil er im Haushalt 50:50 macht, sagt Tante Alice. 😉 Die Entwicklung der Rechtsprechung bezüglich Vergewaltigung und Gewalt gegen Frauen seit den 70er-Jahren wird ausführlich beschrieben und auch der Kampf um eine straffreie Abtreibung. Die Analyse von toxischem Frauenhass, wie mit diesem Problem heutzutage in den Medien bei Gericht und im Internet umgegangen wird und wie aus den Worten Taten, also der Femizid folgt, war extrem spannend. Wenig bekannt war mir, wie viele Frauen abseits der Ehrenmorde in deutschen Familien sterben und wie verharmlosend die Täter bezeichnet und auch entschuldigt werden. Hier redet Schwarzer übrigens nicht nur von den Medien, die Mord immer als Beziehungsstreit oder –drama bagatellisieren, sondern auch vom Umstand, wie die toten Opfer vor Gericht nachträglich in einer unsäglichen Täter-Opfer-Umkehr zu den eigentlichen Schuldigen gemacht werden, von Verteidigern aber auch von Gutachtern und Richtern. Alice Schwarzers generelle Ablehnung von Prostitution und wie sie sich den Kampf dagegen vorstellt, wurde auch sehr gut beschrieben. Die Feministin will die Konsumenten kriminalisieren und im Gegenzug Prostituierten Ausstiegsschulungen, Wohnungen und andere Services anbieten. Das ist übrigens keine Kopfgeburt einer realitätsfernen Emanze, sondern in Schweden, allen skandinavischen Ländern, Frankreich, Irland und Israel bereits Gesetz. Am meisten erschüttert hat mich in diesem Zusammenhang auch das thematisch verwandte Kapitel zu Pornografie und was die sehr leichte und ständige Verfügbarkeit von Pornos im Internet vor allem mit unseren Kindern und Jugendlichen anstellt. Ihre Position gegen das Kopftuch als Zeichen des politischen Islam und der generelle Umgang mit Islamisten und der neu erstarkenden sehr rigiden Unterdrückung von Frauen von orthodoxen Muslimen, die übrigens keine religiöse Grundlagen aufweist, sondern ein kulturelles Erbe von einzelnen Gruppierungen darstellt, wird auch sehr genau beschrieben, inklusive einer intensiven Auseinandersetzung mit Integration in die deutsche und französische Wertegesellschaft. Hier ist auffällig, dass die dritte Generation der Muslime bedauerlicherweise gesteuert von sehr orthodoxen, teilweise islamistischen Verbänden in Summe weit weniger integriert ist, als ihre Elterngeneration. Die Abarbeitung ihrer Herzensthemen wird dann auch immer garniert mit biografischen Disputen im Fernsehen oder feministischen Aktionen, bei der Schwarzer tonangebend war oder mit kleinen persönlichen Anekdoten. Wie beispielsweise die Diskussion mit Verona Feldbusch und Esther Vilar oder ihr Interview mit Romy Schneider. In einem ziemlich umfangreichen Kapitel beschäftigt sich Schwarzer auch mit Angela Merkel, mit der sie schon zu Anfang von Merkels politischer Karriere sehr gut bekannt ist. Hier analysiert sie einerseits Merkels Werdegang, ihre politischen Aktionen und natürlich auch die Wirkung der Kanzlerin als Role Model für alle Frauen. Nun muss ich noch Alice Schwarzers wichtigsten Abschnitt ihres Lebens und das eigentliche Baby der Feministin erwähnen: die Gründung und die Entwicklung der Zeitschrift Emma bis zum heutigen Tag. Auch hier gibt es sehr spannende Einblicke in die Probleme der Gründerzeit, in die Aktionen und Skandale, die Emma immer wieder angestoßen und dadurch einen breiten gesellschaftlichen Diskurs in Gange gebracht hat, in die tägliche Redaktionsarbeit und viele andere Themen der Zeitschrift, wie beispielsweise jenes sehr witzige Experiment mit einem Emma-Heft, das vorwiegend von Männern gestaltet wurde. Im letzten Drittel des Buches werden dann einige ihrer gesellschaftsverändernden und polarisierenden Artikel vollständig im Originaltext abgedruckt, auf die sie schon in ihren Analysen Bezug genommen hat. Fazit: Absolute Leseempfehlung! Mehr eine unaufgeregte feministische Themenschau, denn eine unbescheidene Autobiografie, garniert mit Hintergrundinformationen, Analysen und Reportagen, der persönlichen Meinung von Schwarzer mit biografischen Auflockerungen. Großartig und auch für Männer sehr interessant. Hab geschaut, und für mich sehr unüblich, nicht mal ein Fitzelchen zum Motzen gefunden. Sogar der Bildteil in der Mitte ist von sehr guter Qualität.

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