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awogfli

Posted on 15.12.2020

Kennt Ihr das? Wenn man sich mehr als ein Jahr davor drückt, den letzten Band einer Reihe zu lesen, aber nicht weil sie so schlecht ist, sondern weil sie so gut ist und man einfach noch nicht will, dass alles vorbei ist. Nach so langer Hinauszögerung der Vorfreude habe ich mich endlich überwunden. Feierte in Band zwei von der Tonalität her Optimismus, Freundschaft und Hilfsbereitschaft, fröhliche Urstände, so regiert am Ende der Saga von Virginie Despentes wieder ihr typischer Zynismus. Die nun nicht mehr ganz so kleine Gruppe rund um Vernon Subutex hat zu Beginn des Romans ihre Convergences (kleine Pop-Up Musik und Tanzfestivals) professionalisiert und institutionalisiert. Alle leben ganz gut damit und ein paar der Freunde sogar davon. Jeder gibt, was er möchte und der Tross zieht durch das Land, um an unterschiedlichsten Locations diese Convergences abzuhalten. Die beiden Dopalet Attentäterinnen Aicha und Celeste sind in unterschiedlichen Ländern untergetaucht, um der Rache von Laurent Dopalet zu entgehen. Sie kommen aber beide nicht sehr gut mit der Geheimhaltung und dem Exil zurecht. Die neue Figur Max, die letztendlich sehr viele Steine ins Rollen bringt, wird nun auch in den Roman eingeführt. Der ehemalige Manager von Alex Bleach, ein Narzisst, geldgieriges Arschloch, Drogensüchtiger und Feigling versucht ständig, Kontakt mit der Gruppe zu knüpfen und in die kleine Schaar der Erwählten rund um Vernon Subutex aufgenommen zu werden. Als der Freund Charles, der Vernon, als er obdachlos wurde, gerettet hat, stirbt, kommt heraus, dass dieser Clochard Millionen im Lotto gewonnen hat, die er zu gleichen Teilen seiner Lebensgefährtin und der Freundesgruppe um Vernon Subutex hinterlassen hat. Wie Gift tropft der Reichtum in die kleine Gemeinschaft und zersprengt diese ziemlich rasant. Sofort regieren Misstrauen, Beschuldigungen, Verleumdungen, Gier und Streit, wie das Geld zu verwenden wäre. Vernon verschwindet, als er fälschlich beschuldigt wird und da er als Kitt, der die Gruppe zusammengehalten hat, nicht mehr anwesend ist, zerfällt auch der Rest der Freundschaften. Erst als die Attentate von Bataclan ganz Paris aufschrecken, besinnen sich die Freunde wieder ihrer guten Beziehungen und nehmen aus Sorge erneut intensiven Kontakt zueinander auf. Inzwischen hat Max durch Zufall herausgefunden, dass Celeste in Barcelona untergetaucht ist und verrät diese an Dopalet, in der Hoffnung, sich dadurch einen finanziellen oder beruflichen Vorteil zu verschaffen. Max inszeniert mit zwei sehr kurzfristig angeheuerten Schlägern eine Entführung in der katalanischen Hauptstadt, die in einer grausamen Vergewaltigungsfolter über Wochen mit anschließendem Plan zur Tötung von Celeste eskaliert, da er die zwei unbekannten Komplizen nicht unter Kontrolle bringen kann. Max ist anfänglich erschüttert, er dachte sich eigentlich, er würde Celeste nur festhalten und Dopalet würde sie ein bisschen verprügeln, kann aber nun als Mittäter nicht mehr aus dieser Situation zurücktreten. Irgendwann findet die Hyäne heraus, in welchem Haus Celeste gefangen gehalten wird und rettet sie zusammen mit Olga. Wundervoll zeichnet Virginie Despentes erneut ein detailliertes Bild der französischen Gesellschaft, indem sie die Entwicklung jeder einzelnen Figur vorantreibt. Alle machen einzeln irgendeine Entwicklung durch und auch die gesamte Gruppe transformiert sich ständig: lebt erfolgreich in Armut zusammen, fällt völlig auseinander als der Reichtum einkehrt, rückt auf Grund einer Notsituation wieder eng zusammen und knüpft erneut mit Kommunenleben und Convergences an die Vergangenheit an . „Das einzige, was uns interessiert ist die Legitimierung der Gewalt. Es muss für eine gute Sache sein. Denn wir wollen zwar Blut an den Händen haben, aber trotzdem ein gutes Gewissen. Der einzige Unterschied zwischen einem Soziopathen und einem politischen Aktivisten - dem Soziopathen ist es scheißegal, ob er auf der Seite der Gerechten ist. Er tötet, ohne lange zu fackeln, also ohne sich damit vorher abzugeben, sein Opfer vorher zum Monster zu machen. Die Aktivisten machen es politisch korrekt: Erst die Propaganda dann das Massaker.“ [ Fast schon zum Finale des Romans führt Max als Mastermind eines Terroranschlags mit einer Komplizin, die er über das Internet rekrutiert hat, ein unbeschreibliches Gemetzel während einer Convergence durch, bei der alle Freunde sterben, alle, bis auf Vernon Subutex, der wie durch ein Wunder überlebt. Wenn ich sage alle Freunde, dann meine ich natürlich auch Antoine, den Sohn von Dopalet, der ein fixes Mitglied von Vernons Gemeinschaft ist. Dopalet leidet schrecklich unter dem Tod seines Sohnes. Wer die Aktion in Auftrag gegeben hat und warum sie überhaupt stattfand, verrät uns Despentes bedauerlicherweise nicht, und so stellen sich doch einige Fragen und existieren riesige Lücken über die Motivlage, die ich leider überhaupt nicht goutieren kann. Warum zum Teufel hat Max das gemacht? Ok er war ein Narzisst, aber doch kein empathieloser Psychopath, er hatte ja auch Mitleid mit Celeste, als sie vergewaltigt wurde. Der eigentliche Psychopath war doch Laurent Dopalet, aber der hätte die Aktion ja nicht in Auftrag gegeben, wenn er geahnt hätte, dass sein Sohn involviert und vor Ort anwesend ist. Und auch wenn die Planung des Anschlags von Dopalet ausging und dieser irrtümlich seinen Sohn umbringen ließ, warum hat Max da mitgemacht? Er hatte ja in der Mitte des Buches bei Celeste Skrupel. Warum hat er sich so verändert. Das erschließt sich mir einfach nicht. Anstatt all diese brennenden offenen Fragen zur Motivlage und den Figuren in der Story restlos zu klären, vergaloppiert sich Despentes dann auch noch in ein völlig unnötiges Zukunftskapitel bis zum Jahr 2286, in dem Vernon Subutex zu einer religiösen Kultfigur avanciert. Dieser Abschnitt fällt völlig aus dem Rahmen der Geschichte und wirkt wie ein Fremdkörper. Das hätte sie sich wirklich schenken können und stattdessen die offenen Fragen klären müssen. Beim Plot bin ich immer sehr heikel und ziehe daher im Fotofinish und auf den letzten 5 Seiten noch mit Bedauern einen Stern ab. (hide spoiler)] Fazit: Grandioser Roman mit einem überraschenden Vorfinale, das durch das eigentliche Ende total verpatzt wurde.

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