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elena_liest

Posted on 6.12.2020

"Du kannst alles werden: Laut leise frecht klug vorsichtig impulsiv kreativ freudvoll groß wütend neugierig gefräßig ambitioniert. Du hast die Erlaubnis, Raum einzunehmen auf dieser Welt, mit deinen Gefühlen, deinen Ideen, mit deinem Körper. Du musst nicht schrumpfen. Du musst keinen Teil von dir verstecken, niemals." - Glennon Doyle, "Ungezähmt" Lange, lange musste ich über "Ungezähmt" nachdenken, bevor ich mich zu einer Rezension durchringen konnte. Nach dem Zuklappen des Buches war ich eigentlich recht zufrieden mit der Lektüre. Klar, das Buch hat an vielen Stellen über sein Ziel hinaus geschossen, ich habe aber auch viele Momente im Buch gehabt, in der ich mit der Autorin absolut mitfühlen konnte. Gerade ihre Ausführungen zum Glauben oder auch ihre Trennung von ihrem Mann und ihr Weg zu ihrer neuen Partnerin fand ich sehr inspirierend, genauso ihre Ausführungen zu manchen feministischen Themen. Nach einigen Tagen des Grübelns bin ich aber immer weiter von meiner positiven Meinung abgerückt. Glennon Doyle ist nämlich vor allem eines: sehr überzeugt von ihrem eigenen Lebensweg. Ihre Art, mit den Dingen umzugehen, ist für sie die Maxime, ihre Weise, die Kinder zu erziehen, ist die einzig wahre - so macht Platz für die Frau, die sich nun absolut auf sich selbst konzentriert und sich selbst an die erste Stelle setzt. Es ist schön, dass die Autorin zu sich selbst gefunden hat. Es ist toll, dass sie die Frau fürs Leben gefunden hat. Und es ist ganz wunderbar, dass sie eine Organisation gegründet hat, die sich für andere Frauen, die Hilfe brauchen, einsetzt. Aber: ihre kleinen Anekdötchen aus ihrem Leben zeigen eben auch ganz deutlich, dass ihre Probleme absolute Weiße-Oberschicht-Probleme sind. Nehmen wir als Beispiel ihre Position zur Kindererziehung. Einerseits sieht sie es bei ihrem Sohn als problematisch an, dass er sich durch einen zu frühen Smartphone-Konsum selbst verloren hätte. Auf der anderen Seite schreibt sie aber, dass sie ihrer zweiten Tochter von Anfang an ein Tablet in die Hand gedrückt hat, nach dem Motto: "friss oder stirbt". Auch sagt sie, sie hätte aufgehört, sich selbst für ihre Kinder aufzuopfern - bis zu einem gewissen Grad ok, aber Kinder sind Schutzbefohlene. Allein das Wort steht im Gegensatz zu ihren Ausführungen, aber ihr Kind sei dadurch ja so mutig und unabhängig geworden. Auch finden sich im Buch einige Abschnitte zu ihrer Haltung als Antirassistin. Sie hat beispielsweise ein Seminar für andere weiße Frauen zum Thema Rassismus halten wollen, wurde nach der Ankündigung des Seminars aber selbst als Rassistin bezeichnet. Dazu kann man nun stehen, wie man will, für mich waren ihre ganzen Worte zu diesem Thema aber eher eine Rechtfertigung, ein Heischen nach Zustimmung und ein Ruf nach Gegenstimmen für sie, die ja nun die Opferrolle einnimmt. Muss das sein? Meiner Ansicht nach eher nicht. Versteht mich nicht falsch: das Buch ist nicht schlecht. Es hatte viele gute Momente und ich bewundere Glennon Doyle auch für ihre Stärke, aus einer Alkoholsucht aufzutauchen und ihr Leben so auf die Reihe zu bekommen. Es hatte aber eben auch wirklich viele Schwächen, wirkte zu gewollt, unglaubwürdig und war mir persönlich einfach etwas too much. Vielleicht war es mir auch einfach zu amerikanisch, wenn man das irgendwie verstehen kann. Ich bleibe also höchst zwiegespalten zurück, verneige mich einerseits vor einer so starken Persönlichkeit, schrecke aber auch andererseits vor ihrer Selbstbeweihräucherung etwas zurück. Man kann das Buch lesen, sollte meiner Meinung nach aber nicht erwarten, dass das Buch tatsächlich das eigene, individuelle Leben verändert, wie es unter anderem auf dem Klappentext heißt.

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