Profilbild von awogfli

awogfli

Posted on 26.11.2020

Hangover in Las Vegas als paranoider Horrortrip Eigentlich hat dieses Buch alles, womit ich überhaupt nicht zurechtkomme und was mich immer extrem abtörnt, nämlich einen zerhackten dekonstruierten Plot mit stakkatoartigen Szenenwechseln und sprachlich-stilistisch teilweise Jugendsprech ohne Hilfszeitwörter, aber irgendwie hat es dieser Roman ausnahmsweise geschafft, mich total zu packen. Warum das so ist, darüber habe ich ein bisschen nachdenken müssen. Da ist zuerst einmal die Geschichte, die diesen zerrissenen Plotaufbau quasi fast zwangsläufig verlangt. Lisa wacht nach einer Drogennacht in Las Vegas alleine frühmorgens in ihrem Hotelzimmer auf. Sie ist völlig desorientiert und kann sich an nichts mehr erinnern. Ihr Freund Tom ist verschwunden und sie kann einfach nicht mehr nachvollziehen, wann sie sich in der vorhergehenden Nacht getrennt haben und wohin er verschwunden sein könnte. Nach und nach versucht sie, ihre aufkeimenden verwirrenden Erinnerungsfetzen zu sortieren, während sie verzweifelt in der Stadt umherirrt, um nach Tom zu suchen, noch immer von Drogenflashbacks und Paranoia geplagt. Die Dringlichkeit, ihren Freund zu finden, ist auch enorm, denn zu Mittag geht ihr Flug nach Hause. Lisa findet bei der Rückkehr ins Zimmer die Reisepässe nicht mehr und hat Angst, dass Tom auch noch die Flugtickets am Spieltisch verzockt hat. Sie sitzt also in der Falle und ist auf ihren Freund angewiesen, der einfach nicht auftaucht, während die Uhr tickt. "Du rufst lauter, TOM, TOM-BABY, vielleicht denkst du auch nur, dass du ihn rufen würdest, deine Worte kleben wie Karamellbonbons am Gaumen, kleben in den Zahnzwischenräumen fest, schmecken nur nicht süß, schmecken verdorben, die Zimmerwände pochen, pochen im Rhythmus deines Herzschlags, schnell, Schritte im Zimmer über dir, WIE SPÄT IST ES, ist es schon Tag oder noch Nacht, UM HALB ZWÖLF MÜSSEN WIR LOS, TOM, du kannst dein Telefon nirgendwo sehen, schaust zum Fenster, die Jalousie lässt kaum Licht herein, du weißt nicht, ist es Sonnenlicht, das durch die Ritzen blitzt, oder Neonlicht, die Stunden und Tage verschwimmen unter dem künstlichen Himmel." Nach und nach setzt sich aus den Erinnerungsfetzen die vergangene Nacht zusammen, die am Anfang recht witzig ist, aber mit zunehmendem Drogenkonsum immer mehr eskaliert und letztendlich in einem bösartigen Albtraum mündet. Das Paar hat eine außergewöhnliche Art, ihre Beziehung zu führen. Sie sind Gambler und Zocker, aber von einer besonderen Sorte, denn sie geben sich kleine verrückte, teilweise verruchte Aufgaben als Challenges, die zu absolvieren sind, wenn am Roulettetisch die Kugel auf Rot fällt, die nächste Karte eine rote ist, der andere einen roten Slip angezogen hat oder bei den nächsten drei Autos, die vorbeifahren, ein rotes dabei ist. Je länger sie durch die Stadt ziehen und je mehr sie unterschiedlichste Drogen konsumieren, desto gefährlicher, ausgeflippter und schräger werden die Challenges. Dieser paranoide, panische, abgehackte Schreibstil ließ mich immer mehr in die Story und in diese Nacht in Las Vegas hineinkippen. Was aber eine echte Innovation im Gegensatz zu vielen ähnlichen Werken darstellt, ist der Umstand, dass sich die Autorin auch noch Hilfe von einer sehr guten Fotografin, Barbara Filips, geholt hat, die viele Szenen in rot eingefärbt zusätzlich noch optisch aufbereitet hat. Das machte die Geschichte total plastisch und ließ mich dann endgültig in diesen Kaninchenbau hineinfallen. Insofern ist die in der Überschrift strapazierte Analogie zum Film Hangover auch zu sehen, weil er zwar ein ähnliches Setting aufweist: Blackout, Gedächtnislücken und verlorener Begleiter, Rekonstruktion der Erinnerung und am Ende der Fund einer Videokamera, die alles dokumentiert hat, aber eben eine völlig gegensätzliche Stimmung vermittelt, die eher zu Fear and loathing in Las Vegas passt. Ein weiterer spannender innovativer Punkt des Romans von Petra Piuk ist der Aufbau des Plots in Form eines Roulettespiels. In einer Spielanleitung zu Beginn wird auch eine alternative Anordnung der zu lesenden Kapitel vorgeschlagen. Ich habe zwar die sequentielle Form gewählt und das Buch von Seite 1 bis zum Ende gelesen, aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass das Lesen der Kapitel durcheinandergewürfelt nach den Nummern der Roulettefelder von 1-36 auch funktionieren könnte, und vielleicht ergibt sich dann auch noch ein völlig anderer, alternativer Inhalt. Aber, wie gesagt, ich habe es nicht probiert, nach den Roulettefeldern vorzugehen. Fazit: Sehr innovativ, dieser Roman, nämlich gute und neue Ideen in mehreren Aspekten ausgezeichnet umgesetzt. Für mich diesmal eine echte Überraschung, dass er mir so gut gefallen hat, denn ich bin ja meist ein bisschen zu traditionell und unbeweglich mit Werken, die etwas außerhalb meiner Komfortzone liegen. Leseempfehlung!

zurück nach oben