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awogfli

Posted on 26.10.2020

Lost in Nahost Die Autorin hat eine zu Beginn sehr beeindruckende Geschichte kreiert, die mich bedauerlicherweise durch dramaturgische Schnitzer und daraus folgender mangelnder Figurentiefe ab der Mitte auf dem Weg durch Länder und Zeiten komplett verloren hat. Das ist sehr schade, denn die Story beginnt mit grandiosen Landschaftsbeschreibungen und tiefen Einblicken in die anatolische Gesellschaft. Die Leserschaft kann den Duft der Dorflandschaft förmlich riechen und wird in ein historisches Setting versetzt, das sowohl spannend und bedeutend als auch vielen nicht ganz so bekannt sein dürfte: Das Monsterprojekt, der Bau der Bagdad-Bahn von Konstantinopel über Ankara (Nord-Route) beziehungsweise über Mossul nach Bagdad (Süd-Route). Der Eisenbahningenieur Wilhelm entflieht 1895 aus der Enge Österreichs und der drohenden Armut, da er keinen Job hat. Er macht sich auf in ein großes Eisenbahn-Abenteuer weit weg in Asien, obwohl er mit einer jungen Frau verlobt ist. Als diese 1896 hochschwanger vor der Tür seines Hauses in Anatolien steht, obwohl er ihr nie gesagt hat, wo er sich aufhält, steht er zu seiner Verantwortung und gründet mit Maria eine Familie. Diese resolute Frau ist schwanger über Kontinentsgrenzen gereist, hat keine Strapazen gescheut und ihn in der großen Weite des Osmanischen Reiches aufgespürt, um dem ungeborenen Kind seinen Vater zurückzugeben. Drei weitere gesunde Kinder und eine leidlich passable Ehe, die auf Respekt und Achtung basiert, aber nicht unbedingt von Treue beider Seiten getragen ist, krönen diese Familiengründung. Als die zwei Söhne Erich und Hans gerade ins wehrfähige Alter gekommen sind und der erste Weltkrieg ausbricht, trifft die Familie, initiiert von den Eltern, eine ziemlich dumme und folgenschwere Entscheidung. Da die Söhne in Anatolien geboren sind, müssten sie eigentlich für das türkische Heer in den Krieg ziehen. Das wollen Wilhelm und Maria aber nicht, also bitten sie den Pascha zu intervenieren. Dieser kann aber nur eine suboptimale Lösung anbieten: nämlich dass einer der Brüder die Papiere eines gestorbenen Franzosen erhält und der andere jene eines toten deutschen Eisenbahnarbeiters. Die beiden müssten dann als Kriegsgegner in den ersten Weltkrieg ziehen. Warum sich alle auf den Deal einlassen, ist mir schleierhaft. Als Bruder Hans auf dem Weg nach Frankreich wegen der Liebe im Triestiner Karst strandet, blitzte für mich das letzte Mal die Erzählkunst der Autorin auf. In dieser Gegend, wo ich seit 30 Jahren meinen Urlaub verbringe, viele Freunde gefunden habe, jeden Heuhaufen, jeden Heurigen und jedes Dorf kenne, kann ich erstmals auch selbst beurteilen, wie genau die Landschaftsbeschreibungen und Schilderung der dortigen Gesellschaft sind. Und dann beginnen die meiner Meinung nach größten dramaturgischen Schnitzer. Eine sehr effiziente Strategie, wie man Spannung mit einem Schlag perfekt zerstören kann. Immer wenn die Geschichte auf eine rasante Schlüsselszene zusteuert, die die Handlung dramatisch werden lässt, blendet die Autorin weg, macht einen Zeitsprung und fasst dann in viel zu knappen Worten in einer Nachschau als Kurznachricht alles zusammen. Man ist leider als Leser nie direkt dabei, wenn was Wichtiges passiert. Beispielsweise als Hans sich in einer Karsthöhle vor den italienischen Behörden versteckt, wird abgeblendet. Nachher erfahren wir ganz lapidar, dass er erschossen wurde. Der erste Weltkrieg an der deutschen Front und die daraus resultierenden Traumata von Bruder Erich werden gleich ganz übersprungen. Aber auch die Veränderungen der Eltern Wilhelm und Maria mit der Tochter Irmgard, die in Wien gestrandet sind, werden leider in der Nachschau auch nicht in ausreichender Tiefe thematisiert. Durch diese Zeitbrüche entstehen auch sehr flache Figuren, da die Charakterveränderungen und die Figurenentwicklung viel zu wenig nachvollzogen werden können. Viele Fragen stellen sich: Warum ist aus der resoluten Maria schon in der Anfangszeit in Wien so schnell eine verbitterte Frau geworden, warum wurde Irmgard Kommunistin und ist in die Tschechoslowakei gegangen? Erichs Leben scheint dann nur noch aus abrupten Szenenwechseln zu bestehen. Er ist durch den Krieg zum Junkie geworden und lebt eine Weile in Istanbul. Als er seine Verlobte dort sitzenlässt, inklusive seinem schwulen oder auch nicht homosexuellen Freund, erneut Abblende, Neubeginn und Verlagerung des Lebensmittelpunktes Erichs zu einer Erdölgesellschaft nach Baku. In der Nachschau wird wieder einmal im Telegrammstil klar: es gab eine riesengroße Trennungsszene und seine Verlobte litt mehrere Jahre sehr unter dem plötzlichen Verschwinden ihres Geliebten. Am Ende löste sich durch diese chronologischen Brüche für mich auch die Verortung des Romans auf. Völlig orientierungslos stolperte ich nur noch durch den Plot. Wo Erich letztendlich auf der Flucht vor dem zweiten Weltkrieg gestrandet ist, erschloss sich mir nicht mehr. Haifa? Bagdad? Kuwait? Irgendwo an einem Wasserfall am Euphrat und Tigris oder doch in Anatolien? Egal! Hat mich dann auch nicht mehr interessiert, denn ich habe aufgegeben, mit der Figur Erich mitfiebern zu wollen. Ich weiß auch nicht, was die Intention war, den zweiten Teil des Buches dramaturgisch so derart gegensätzlich zum ersten Teil zu gestalten. War es Zeitdruck, dass der Plot einfach nicht mehr sorgfältig ausgearbeitet werden konnte oder sollte so ein Stilmittel der Geschichte eine literarische und mysteriöse Komponente verleihen? Das hat so was von überhaupt nicht funktioniert! Fazit: Ein leider mittelmäßiger Roman, der ausgezeichnet beginnt, aber durch seine handwerklichen Schwächen im zweiten Teil einfach ins Nirwana verpufft.

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