awogfli
Justizia und Asyl In diesem Roman wird uns die Innensicht der Protagonistin, einer Asylrichterin in Österreich, sehr gut beschrieben. Gabriele ist extrem analytisch, sie wägt die meisten Entscheidungen ihres Lebens, die beruflichen, großen, für Flüchtende lebensverändernden ihm Rahmen ihrer Tätigkeit genauso, wie die kleinen, persönlichen mit sehr vielen Argumenten inklusive Für und Wider ab. Dies gibt der Leserschaft einen grandiosen, recht neutral und juristisch korrekt gehaltenen umfassenden Einblick in die Thematiken Asyl, Rechtstaat und Rechtsauslegungen, da sie sowohl sehr sachlich rechtskonservative Positionen (nicht die emotionale hasserfüllte Art, an das Thema heranzugehen, derer sich die Rechte bedient) als auch die humanitäre Sicht auf ihren Job unter der Einschränkung der Gesetze, die sie zu befolgen hat, in jedem Einzelfall durchexerziert. Durch diese konsistent authentisch entwickelte Figur und ihre permanenten Abwägungen und Gedankensprünge, die sich auch in kopflastiger Sprache manifestieren, mag manchen der Roman vielleicht zu spröde und mühsam erscheinen, für mich war er punktgenau richtig, denn auch ich bin so. Durch die beschriebene gängige juristische Praxis, nicht alles, was Asylanten erzählen, zu glauben, denn sie werden offensichtlich bezüglich der Darstellung ihrer Biografie von Organisationen gebrieft, dachte ich ursprünglich auch, Gabriele wäre sehr rechtskonservativ, aber als ich dann den Umgang mit den falschen, beziehungsweise richtigen Lebensläufen, und Gabrieles Handlungen in der Rechtsprechung in Summe erfasste, war mir klar, dass sie sich immer bemühte, den Spagat zwischen Wahrheitsfindung, Humanität und Gesetzeskonformität jeden Tag aufs Neue zu schaffen. Sie unterbricht sogar immer die Verhandlungen, um das Gesagte zu recherchieren, sie leidet an der Unbarmherzigkeit der Beamten, der Gesetze und der Einschätzung der Lage in den einzelnen Ländern und stellt sogar manchmal infrage, ob die Gesetze, die sie exekutieren muss und an die sie glaubt, wirklich rechtens sind und nicht vielleicht gegen höhergeordnete Gesetze, wie die der Menschenrechtskonvention beziehungsweise eine allgemeine Menschlichkeit, verstoßen. An sich ergäbe nun schon das Sachthema der Geschichte einen passablen Roman. Die Autorin stellt uns aber abseits der Robe und des Jobs auch noch den Menschen Gabriele vor: die Protagonistin, die Angst davor hat, wie ihre Mutter zu erblinden, die relativ einsam in einer Beziehung gefangen ist, in der sie sich zwar arrangiert und eingerichtet hat, in der ihr Partner aber einige Obsessionen vor ihr verbirgt, auch ein paar Probleme mit ihrem Erfolg hat und in der sie als Paar extrem wenig Gemeinsamkeiten haben, weder in der politischen Einstellung noch in den Interessen. Gabriele kann sich kaum über das, was sie bewegt, austauschen, dafür ist ihr Partner nicht da. Zudem wabern im Hintergrund dunkle Familiengeheimnisse, die das ganze strukturierte Leben auseinanderbrechen lassen könnten. Schritt für Schritt werden diese teilweise enthüllt. Da ist der drogensüchtige verstoßene Bruder, der für ihre Fehlgeburt verantwortlich war und der nun ausgerechnet beim Roten Kreuz in Kabul arbeitet, wodurch sie im Rahmen ihres Jobs online wieder erste zarte Anknüpfungspunkte zu ihm aufbaut. Und der Vater mit Waffenschieber- und Nazivergangenheit, von dem sie nicht weiß, ob er sich umgebracht hat oder ob er wegen seiner kriminellen Verstrickungen ermordet worden ist. Nach einem eher gemächlichen Plot mit vielen Abwägungen überschlagen sich im Finale ganz plötzlich die Ereignisse, und mir war es ehrlich gesagt um eine Nuance zu rasant und hektisch. Viele offene Fragen wurden aufgelöst und der Leserschaft wurde als Ende auch eine Entscheidung, ein Wendepunkt in Gabrieles Leben präsentiert, aber ich hatte irgendwie das Gefühl, ich bin noch nicht fertig mit dem Leben der Protagonistin. Ich will wissen, wie es weitergeht. Also, liebe Lydia Mischkulnig, diese Geschichte schreit nach einem zweiten Teil, wenn es keine Fortsetzung gibt, wäre ich enttäuscht. Fazit: Absolute Leseempfehlung von mir! Ein brandaktuelles Thema grandios in eine persönliche Geschichte eingebettet. Aber nicht geeignet für Leser*innen, die bei extrem analytischen Figuren und Handlungen beziehungsweise etwas kopflastiger Sprache schnell genervt sind. Ich finde es eigentlich schade, dass dieses Buch nicht für den deutschen Buchpreis auf der Longlist war. Am Ende habe ich, wie bei mir üblich, ein kleines bisschen zu mäkeln, aber wenn es einen Folgeroman gibt, der dieselbe Qualität aufweist, bin ich auch gleich wieder still. Erinnert mich übrigens frappant an meine Situation mit Angelika Klüssendorfs Roman Das Mädchen. Da hatte ich 2011 dasselbe Gefühl, konnte damals aber noch nicht absehen, dass zwei Fortsetzungen geplant waren. 4,5 Sterne aufgerundet auf 5