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evaczyk

Posted on 1.9.2020

Manches ist geschrieben worden über die „survivors guilt“, das Schuldgefühl derjenigen, die den Holocaust überlebt hatten, während so viele andere sterben mussten, das Gefühl, gewissermaßen ohne eigenen Verdienst davongekommen zu sein mit so viel anderen Verlusten. Der Protagonist von „Kein Ort ist fern genug“ entwickelt dieses Schuldgefühl aus weiter Ferne in Argentinien, wenn er auf die Situation in Warschau im Zweiten Weltkrieg blickt. Von hier ist Vicente, eigentlich Wincenty, ein polnischer Jude, in den späten 20-er Jahren nach Südamerika ausgewandert. Santiago Amigorena hat seinen Roman im französischen Original „Das innere Ghetto“ genannt, und dieser Titel trifft die Essenz des Buches. Denn während Vicente eigentlich mit seiner europäischen Vergangenheit abgeschlossen hat, in Argentinien eine Familie und eine geschäftliche Existenz gegründet hat, ist seine Mutter mit dem älteren Bruder in Warschau geblieben. Anfangs reagiert Vicente genervt auf die Wünsche der Mutter nach regelmäßigen Briefen, lässt die Schreiben, die ihn erreichen, auch längere Zeit unbeantwortet. Selbst der Beginn des Zweiten Weltkriegs ändert daran zunächst wenig. Erst nach und nach macht sich Vicente klar, dass die beunruhigenden Zeitungsberichte, die sein ebenfalls aus Polen stammender Freund Ariel im Kaffeehaus diskutiert, für seine Mutter einen ganz persönlichen Bezug haben. Der Mann, der sich längst als Argentinier betrachtet hat, der auch in Polen mit dem orthodoxen Judentum wenig am Hut hatte und sich eher als Pole gefühlt hatte, entwickelt angesichts der Vorgänge in Europa ein Bewusstsein für seine eigene jüdische Identität als Konfrontation mit dem Antisemitismus, wobei dies eine eher schmerzlich-ambivalente Erfahrung ist: „Mit am schlimmsten am Antisemitismus ist die Tatsache, dass Juden sich zwangsläufig als Juden zu fühlen haben, dass man sie auf eine Identität jenseits ihres Willens festlegt und kurzerhand für sie beschließt, wer sie wirklich sind. … Wie viele Juden verstand Vicente allmählich, dass der Antisemitismus Semiten braucht, um existieren zu können.“ Die Deportationen, die Einrichtungen von Ghettos, die „Sonderaktionen“ – vor Argentinien aus ist das weit weg, sprengt auch die Vorstellungskraft von Vicente, Ariel und ihren Freunden, um so mehr die der argentinischen Nachbarn. Doch mehr noch als die Zeitungsartikel und Wochenschauberichte sind es die immer spärlicher werdenden, die immer sehnsüchtiger erwarteten Schreiben der Mutter, die Vicente die Augen öffnen. Gewiss, er hatte davon gesprochen, die Mutter nach Argentinien zu holen, war aber doch erleichtert zu wissen, dass sie bestimmt nicht seine Geschwister zurücklassen würde. Hätte er drängen müssen, hätte er die Zeichen der Zeit erkennen müssen? Während seine Mutter aus dem Ghetto von Hunger und dem allgegenwärtigen Tod auf den Straßen berichtet, begibt sich Vicente in das „innere Ghetto“, in eine von der Umgebung abgeschottete Gedankenwelt, in der kein Platz mehr für die Liebe seiner Frau und seiner Kinder, für die Arbeit ist. Glücksspiel, Pferdewetten, Nächte im Kaffeehaus sind einer Flucht aus dieser Realität wie auch aus der Realität in Europa. Der Brief seiner Mutter hatte Vicente die Augen geöffnet und ihn zum Schweigen gebracht angesichts des Unsagbaren. „Sein Blick ist inzwischen gesprächiger geworden, als es seine Lippen je waren“ konstatiert sein Freund Ariel. Aus dem inneren Ghetto gibt es keinen Ausweg, so wie auch der Weg der Mutter aus dem Warschauer Ghetto nur vom berüchtigten Umschlagplatz in das Vernichtungslager Treblinka gehen konnte. Auch Vicente ist ein Überlebender, ein Davongekommener, der von Schuldgefühlen niedergedrückt und zum Verstummen gebracht wurde. Es ist sein Enkelsohn Amigorena, der sich sein Bild der Familiengeschichte erschreibt. „Kein Ort ist fern genug“ ist keine klassische Holocaustliteratur und doch untrennbar mit der Erfahrung der Schoah verbunden. Das Buch erzählt langsam, eher unspektakulär. Es ist sowohl ein Psychogramm wie eine Warnung von Gleichgültigkeit angesichts scheinbar ferner Ereignisse.

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