elena_liest
"Ein neuer Tag bricht an, wie immer, wie jeden Morgen, und dass die Welt dieselbe sein soll nach gestern, das kann ich nicht begreifen. Dass die Vögel zwitschern. Die Welt hat eine Tarnung, so wie ich im Dorf, die Welt mit ihren Menschen darin ist schlecht, tut aber so, als sei sie schön mit ihren scheiß Schmetterlingen und Regenbögen und ihrem Vogelgezwitscher." - Karen Köhler, Miroloi Sie ist eine Außenseiterin, eine Ausgestoßene im Dorf, mit ihr möchte niemand was zu tun haben, sie wird beschimpft und misshandelt. Das alles nur, weil sie von "drüben" kommt und von ihrer Mutter ausgesetzt wurde. Einen Namen hat sie nicht, denn der Ältestenrat verbietet es - genauso wie den Frauen das Lesen, den Männern das Singen oder Strom vom Festland. Im "Schönen Dorf" auf der Insel geht es ganz anders zu als auf dem Festland und für das Mädchen bleibt da keinen Platz. Doch wie definierst du dich, wenn du keinen Namen hast und nirgendwo dazu gehörst? "Miroloi" ist eine inhaltliche und sprachliche Wucht. Aufgeteilt in Liedstrophen statt Kapitel kommt es schon in einem sonderbaren Gewand daher, das sich mit besonderem Inhalt füllt und so zu etwas Einzigartigem wird. Selten habe ich ein Buch gelesen, dessen Sprache mich so mitgenommen und berührt hat. Es ist ein sprachlich recht einfacher Roman, der aber gerade mit dieser Einfachheit punkten kann und mich so besonders für sich eingenommen hat. Ich konnte mir das Dorf und die Insel sehr gut vorstellen und sie durch die Augen des Mädchens "sehen". Auch die Geschichte hat es in sich: auf der einen Seite ist die Welt, in der das Mädchen lebt, in seiner rohen Form sehr faszinierend, auf der anderen Seite habe ich aber eine riesige Wut beim Lesen verspürt, die gleiche Wut, die auch bei dem Mädchen aufkeimt und sich immer weiter auf- und letztendlich entlädt. Ich wurde in diese ganz besondere Erzählung hineingezogen, habe mir das Miroloi, das Totenlied, des Mädchens angehört und konnte kaum mehr aufhören zu lesen. Man fiebert mit ihr mit, hofft und bangt mit ihr und fühlt fast den Schmerz, den sie immer wieder erleiden muss. Karen Köhler schafft mit ihrem Roman ein Stück Widerstand. "Miroloi" ist ein Lied gegen die bestehenden Strukturen und ruft in Erinnerung, wie es werden kann, wenn man nicht aufpasst. Ich bin mehr als begeistert davon und vergebe 5 / 5 🌟.