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awogfli

Posted on 21.8.2020

Dieser Roman hatte schon von den Ausgangsvoraussetzungen her alles, was mich brennend interessiert. Die verschlafene alte Dame Venedig mit ihren malerischen Wasserstraßen in den 1920er-Jahren, der allmähliche Aufstieg der Stadt zur Künstler- und Tourismushochburg, Peggy Guggenheim und der Rest, der durch die europäischen Städte marodierenden Künstlermeute in the city of Venice verknüpft mit einer spannenden Familiengeschichte, in der sich ein sehr kluges, junges und hübsches Mädchen aus der Unterschicht einen Grafen (Conte) angelt. Zudem hat die Story auch noch einen realen Hintergrund, denn die Autorin Jana Revedin schildert das Leben ihrer Schwiegergroßmutter Margherita Revedin, die die Filmfestspiele in Venedig initiiert und zusammen mit ihrem Mann den Aufstieg der Stadt zu einer Tourismushochburg betrieben hat. Der Anfang war sehr gut geschildert, wie sich der Graf in das kluge Mädchen aus der Unterschicht in Treviso verliebt, die ihm jeden Tag als Schwester der Kioskbetreiberin die Zeitung, den Corriere della sera, bringt und dann mit ihm über die Schlagzeilen diskutiert. Plötzlich findet sich die puta persa, das verlorene Mädchen – und Mädchen ist noch ein netter von mir verwendeter Ausdruck – als Contessa mit mehreren Palazzos in Venedig wieder. Sie wird von der feinen Gesellschaft Zeit ihres Lebens geschnitten, nicht nur weil sie aus der Unterschicht kommt, sondern vor allem, weil sie nicht aus Venedig stammt. Zusammen mit ihrem Mann schmiedet sie hochfliegende Pläne: Sie wollen mit Kur-, Sport- und Kunsttourismus die internationale Crème della Crème und den Jetset in das verschlafene Nest am Lido bringen. Denn das einstige Schmuckstück und eines der Zentren der Renaissance hat sich im Laufe der Jahrhunderte zu einer recht morbiden, ziemlich toten Stadt entwickelt. Leider begannen nach der Ouvertüre schon meine ersten Probleme mit dem Roman. Als das junge Paar auf seiner Hochzeitsreise im Ritz in Paris logiert, treffen sie alle möglichen spannenden Künstler aus sehr vielen Bereichen. Margherita wird als Freundin von Eugenia Errázuriz, einer reichen lateinamerikanischen Kunstmäzenin, sehr liebevoll in den Pariser Salons aufgenommen, es entwickelt sich mit der temperamentvollen Milliardärin sogar im Laufe der Zeit eine tiefe, innige Freundschaft. Dort lernt sie dann auch die wichtigen Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur ganz quer durch die Genres genauer kennen. Bedauerlicherweise ist die gesamte Beschreibung der Begegnungen nur auf Namedropping aufgebaut, nahezu nichts erfährt die Leserschaft beispielsweise über Coco Chanel, mit der Margherita angeblich befreundet war, außer dass sie ihren Kleidungsstil beeinflusst und ihr zu einem Pagenkopf geraten hat. Ebenso verfuhr die Autorin in der Beschreibung der Beziehungen zu Freund Giacometti, Cocteau, Jean-Michel Frank … von Picasso erfahren wir nur, dass ihn Margherita nicht leiden konnte, weil er so überheblich war, aber einen Grund oder eine einzige Szene, die diese Einschätzung begründet, bleibt uns auch verwehrt. Von Proust wird uns lediglich en passant mitgeteilt, dass er Jean-Michel Franks Nachbar ist. Das ist extrem nervig, so wie das Spiel Bullshitbingo mit bekannten Persönlichkeiten, in dem sich reiche Prahler mit jenen berühmten Persönlichkeiten wichtigmachen und schmücken, die sie angeblich gut kennen, aber dann eben keine einzige tiefe Beziehung oder irgendwelche spannenden Begegnungen schildern können. Hauptsache, sie haben die allseits bekannten Namen genannt, um sie auf der Bingokarte der Wichtigtuerei ausstreichen zu können. Als Margherita dann Peggy Guggenheim kennenlernt, die von Eugenia zu ihr nach Venedig geschickt wurde, weil sie sogar für die Pariser Salons zu nervig, abgedreht und etwas zu ordinär war, wird die Geschichte wieder spannend. Die beiden freunden sich an und im Verbund mit Eugenia marodieren sie fast wie die zwei Damen aus Absolutely fabulous durch die Lagunenstadt. Der Absolut Vodka, Peggys Lieblingsgetränk, fließt schon am Vormittag in Strömen, die Murattipackungen werden verpofelt und folgender witziger historisch hellsichtiger Dialog entspinnt sich bereits 1923 zwischen den drei Damen: „Das findet im Übrigen auch D’Annunzio“, fügte Margherita, die am Ende ihrer Muratti angekommen war, ihrem Dialog jetzt hinzu. Er hat sich seit den jüngsten populistischen Machenschaften infolge der Wirtschaftskrise merklich von Mussolini distanziert und nennt ihn jetzt einen lächerlichen Nibelungenfürsten.“ „Entzückend“, fand Eugenia „und wie nennt er Mussolinis neuen Bergbauernfreund, diesen Österreicher?“ „Hitler? Einen als Charly Chaplin geschminkten Malerlehrling.“ Sie mussten alle drei lachen. So witzig vereinzelte politische und künstlerische Nebenstränge aufgebaut und konzipiert sind und so eindrücklich auch das tägliche Leben in Venedig geschildert wird, so sehr wird jedoch die eigentliche Familiengeschichte vernachlässigt. Nie erfahren wir, was die Entfremdung zwischen Margherita und ihrem Conte Nico ausgelöst hat und auch die Gründe für die Probleme beziehungsweise die Funkstille über mehr als ein Jahrzehnt mit ihrem Sohn gegen Ende des Romans werden nie thematisiert. Die Autorin verliert sich in Petitessen, wenn die Familiengeschichte spannend wird, dann wird einfach weggeblendet. Jetzt kann das natürlich sein, dass in einer solch feinen venezianischen Familie es Usus ist, Probleme in Tagebüchern und sonst auch nie anzusprechen und alles unter den Teppich zu kehren. Aber wenn ich als Autorin einen Roman mit Familiengeschichte schreiben will, habe ich drei Möglichkeiten. Entweder ich schreibe nur über Peggy Guggenheim, also ich lasse die Familiengeschichte, oder ich finde heraus, was wirklich passiert ist und schreibe darüber, oder ich erfinde etwas, um die Motive der Figuren zu erklären, auch wenn ich jemandem auf den Schlips trete. Ist ja kein Problem, schließlich steht ROMAN auf dem Titel, was gleichbedeutend mit Fiktion ist, und dadurch darf im Rahmen der schriftstellerischen Freiheit auch durchaus etwas erfunden werden. Keine Option ist aber die Vorgehensweise in diesem Roman, es kommt gähnende Langeweile auf und durch die nicht gelüfteten Familiengeheimnisse und die dadurch fehlende Motivation für viele Handlungen entstehen derart flache Figuren, dass man sich weder in die Geschichte einleben noch die Aktionen der Protagonisten verstehen kann. Fazit: Bei so viel Ausgangspotenzial ist der Roman durch seine gravierenden Schwächen eine herbe Enttäuschung in Bezug auf seine Mittelmäßigkeit. Es fehlen das Herz und die eingängige, mitreißende Story der Familie, alles erscheint farblos und flach. Dennoch habe ich gelegentlich Teile des Buchs durchaus genossen – wahrscheinlich auch, weil ich das Lesen mit einem Ausflug nach Venedig gekoppelt habe.

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