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awogfli

Posted on 19.8.2020

Genialität gemischt mit Gähnen So kann ich kurz und knackig für mich dieses epochale Werk in seiner Gesamtheit abschließend analysieren. In diesem mehr als 1000 Seiten umfassenden riesen Ziegel, mit dem man sogar Leute erschlagen könnte, wechseln sich wahrhaft grandiose Analysen und gut gezeichnete Figuren, die in der Literatur ihresgleichen suchen, mit ganz schlechten, handwerklich schrecklich gemachten Passagen ab, wobei im zweiten Drittel wirklich der Tiefpunkt erreicht wird. Ich frage mich schon, wie die Literaturkritik vor so einem Murks, der weite Strecken des Mittelteils und das Ende betrifft, die Augen verschließen kann und das Gesamtwerk als Meisterwerk betitelt. Man muss doch ein Buch in seiner Gesamtheit betrachten und kann sich nicht nur die genialen Szenen für die Beurteilung herauspicken. Details zu meinen Kritikpunkten werde ich noch genauer ausführen. Zu Beginn dachte ich noch, der Roman wäre gar nicht lektoriert worden und meinte, ein kluges, strenges, straffendes Lektorat, das auf mindestens 400 Seiten und bei einigen nutzlosen Figuren den Rotstift ansetzt, hätte dem Roman gutgetan, nun bin ich eines Besseren belehrt worden, der Roman wurde tatsächlich lektoriert und noch viel mehr Szenen wurden gestrichen, als die Geschichte auch für Musil eskalierte, da er zu keinem Ende kommen konnte. Aber fangen wir mit den genialen Punkten an. Musil zeichnet ein großartiges Sittenbild der österreichischen Gesellschaft um 1913 – die er Kakanien nennt. Er führt zu diesem Zweck neben sehr vielen unterschiedlichen Figuren aus allen Schichten des Landes die Parallelaktion ein, quasi ein Projekt, in dem anlässlich des Geburtstages seiner Majestät Kaiser Franz Josef in einem Salon unterschiedlichste Schichten und Branchen zusammenkommen, um irgendeine Idee für Kaisers Geburtstag kreieren. Das hat etwas von Brainstorming und modernem Projektmanagement mit viel Bürokratie in einem lockeren Rahmen, wobei das Projekt daran krankt, dass es keine Vorgaben gibt, was überhaupt dabei herauskommen soll. Diese geniale Konstruktion erlaubt dem Autor all seine Figuren aus den unterschiedlichen Schichten miteinander zu verweben, sie teilweise an einem Ort zusammenzubringen und dabei gleichzeitig eine 360 Grad Umschau auf die Gesellschaft und einen größeren Zusammenhang herzustellen, den er ansonsten mit Figuren an den Haaren herbeiziehen hätte müssen: Die große Parallelaktion bildet auch Unteraussschüsse und wird im Hinblick auf das noch nicht definierte Ziel der großen Aktion analysiert: Wissenschaft, Presse, Militär, Beamte, Bankiers, Bildungsbürgertum, Schwätzer, Politik, Nationalismus, Rechtssystem… es fehlt eigentlich nur der Kaiser selbst in diesem. Da gibt es beispielsweise im unzähligen Personal, das den Roman bevölkert, den Protagonisten, den Mann ohne Eigenschaften Ulrich, der früher Wissenschaftler war, den deutschen Schwätzer und Industriellen Arnheim, ein Hansdampf und Blender in allen Gassen, Ulrichs Cousine Diotima, die den Salon führt, ständig mit den Intellektuellen liebäugelt, um ihr fades Leben als Beamtengattin aufzumotzen, die deutsch-jüdische Bankiersfamilie Fischl, die mit dem Antisemitismus ihrer eigenen Tochter kämpft, die sich in einen jungen deutschnationalen Burschen verliebt hat, der General Stumm, der durch seinen militärischen Hintergrund als einziger fähig ist, ein bisschen Ordnung in das Chaos des Projektes und der vielen Ideen zu bringen, ein paar Geliebte des Protagonisten Ulrich, Ulrichs Freund Walter mit seiner Frau Clarisse und noch viele weitere Figuren. Die politische Analyse auf Basis der Gesellschaftsanalyse ist grandios. Mit jeder Faser spüren die Figuren dieser Zeit, dass etwas mit den Menschen und der Gesellschaft im Argen liegt bzw. den dräuenden Weltenbrand und das geht weit über Kulturpessimismus, den es zu allen Zeiten gab, hinaus. Weiters werden selbstverständlich mit viel Humor in treffenden Analysen die Probleme des Vielvölkerstaates aufs Tapet gebracht. Am Ende des ersten Drittels, nicht nach Kapiteln sondern so nach etwa 350 Seiten, hat sich Musil bis auf ein paar Lichtblicke meiner Meinung nach total übernommen. Da die Figuren in ausreichender Tiefe schon eingeführt sind, wird eine erneute Analyse abseits einer menschlichen Weiterentwicklung zum nutzlosen Geschwätz. Die Gesellschaftsanalyse kommt eben nur in den Kapiteln mit Lichtblick voran, die nun spärlich werden. Musil hat sich verphilosophiert und scheitert auch an seinem eigenen Anspruch, denn er kann die Qualität, die zu Beginn permanent aufblitzt nicht auf Dauer halten. Zugegeben, man kann man als Autor nicht immer nur auf der Spitze des Niveaus operieren, aber die qualitativen Täler, durch die man als Leser waten muss, werden mit zunehmender Länge des Romans bedauerlicherweise breiter und häufiger. Unnötige, schlecht gezeichnete Figuren und schlecht recherchierte Theorien Was ich nie ganz verstehen will, sind einige Figuren, die zwar mitspielen, aber weder etwas für die Handlung tun, noch irgendwelche Beiträge zum philosophischen Unterbau leisten. Zum Beispiel der ausladende Erzählstrang des Frauenmörders Moosbrugger, dessen Verurteilung zum Tode nicht nur in den Salons mit gruselnder Bewunderung ob der ziellosen Gewalttätigkeit diskutiert wird – was ich ja verstehen kann - sondern der in einzelnen gähnend langweiligen Szenen auch noch mitspielen muss. Mir kommt diese Figur als fiktives Zeitgeistphantom vor, das man aus den damaligen Medien kennt, so wie Charles Manson, der in den 70er Jahren als verehrtes Monster in die Hippie-Kultur einging. Das war so ein fernes fiktives Monster, das einen erschaudern ließ, über das man diskutierte und das man verehrte, aber sicher nicht in der Realität in der Nachbarschaft haben wollte. Bei all dem Geschwafel der Protagonisten, konnte mir Musil auch nie die Motive von Clarisse, der Frau des Freundes Walter erklären. Sie verhält sich völlig ambivalent bekloppt und wird als etwas wahnhaft beschrieben. Aber selbst Personen mit massiven psychischen Störungen und wahnhaftem Verhalten haben in ihrem Wahn Motive, die zwar nicht dem Normalbild entsprechen, aber in sich konsistent sind. Clarisse verhält sich total uneinheitlich und setzt Handlungen ohne ersichtliche Motivlage. Sie ist als Figur nämlich extrem schlampig gezeichnet. Vor allem auch dem Umstand geschuldet, dass es 1913 schon sehr viele Ansätze der Psychologie und Psychiatrie gab und eben verrückte Frauen von Männern nicht mehr total unlogisch abkategorisiert wurden, sondern in Psychoanalyse und Psychiatrie durchaus schon konsistente Erklärungsmuster bestanden, die zwar im Gedankengebäude nicht unbedingt stimmten, aber dennoch in sich stimmig waren. Siehe Hysterie und sexuelle Obsession. Insofern fand ich dann Musil in dieser Hinsicht doppelt schlampig, denn er hat die psychiatrischen Inhalte durch die Hansdampffigur und Erklärbär Arnheim erläutern lassen und durchaus schon aufs Tapet seines Romans gepackt. Musil war aber dann selbst offensichtlich entweder zu faul, zu schlampig oder zu ungebildet, die erwähnten und verwursteten damals bekannten wissenschaftlichen Hintergründe auch tatsächlich zu recherchieren, zu lesen, zu verstehen und somit auch korrekt in seinen Roman, die Handlung und die Figurenkonzeption einzubauen. Letztendlich fürchte ich, dass Musil leider mit dem Zitieren von psychiatrischen und psychoanalytischen Theorien, dasselbe verfolgt hat. Gleich seinem Protagonisten Arnheim wirft er aus bildungsbürgerlicher Eitelkeit ein paar Theorien in den Roman, um als klug und belesen zu gelten, ohne sie jemals gelesen, geschweige denn verstanden zu haben, in der Hoffnung seine Zeitgenossen kennen sich eh nicht aus und hinterfragen nicht. Quasi Bullshitbingo und Namedropping um 1913. Der Herr Doktor Schnitzler hätte ihm sein Manuskript zerrissen, währenddessen er ihn ausgelacht, ihn anschließend eingewiesen und zu Sigmund Freud in die Zwangstherapie gesteckt hätte. Damit er endlich weiß, wovon er schreibt. In dem Zusammenhang kann auch gleich Clarisses Ehemann Walter und der Freund der Familie Meingast zusätzlich aus dem Roman gestrichen werden, denn auch sie tragen nahezu nichts zur Handlung und zu den Theorien bei. Außer dass Meingast anscheinend den deutschnationalen Philosophen Ludwig Klages verkörpert und zudem als Kinderschänder dargestellt wird. Im Bereich unkorrekter Theorien soll auch noch das Wissenschaftskapitel erwähnt werden, das recht einseitig betrachtet ist und sogar schon falsch zur damaligen Zeit, denn Musil beurteilt die Wissenschaft nur als theoretische Disziplin mit Theorien und Modellen und nicht als angewandte und empirische Forschung inklusive Innovationsmanagement mit harter Arbeit und vielen Versuchen. Selbst um 1900 gab es in der Forschung nicht nur den Tesla-Prototyp eines Wissenschaftlers, sondern es gab schon seit längerer Zeit auch die Edison-Methode, die mit viel Arbeit, viel Manpower und vielen Versuchen im Rahmen eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses neue Forschungsergebnisse produzierte. Wenn ich über ein Gebiet, von dem ich keine Ahnung habe, philosophiere, muss ich entweder ordentlich recherchieren, oder die Finger davon lassen. Auch meine so geliebte Figur des Angelo Soliman, der eigentlich ein historischer Anachronismus ist, denn die reale Person lebte um 1750, trägt so gut wie gar nichts zur Handlung bei und kann damit auch aus diesem ausufernden Konvolut gestrichen werden. Auch wenn manche der von mir aufgezählten Figuren ein klitzekleines Schäufelchen zum Roman beitragen, ein modernerer nicht so mühsamer Schriftsteller wie Musli, der offensichtlich unter der Zwangsstörung Figurenmessie leidet, hätte sie abgemurkst, wenn sie dem Roman nicht mehr dienen. Ich denke nun mit Wehmut an Robert Menasse, der dieses Problem in seinem auch ausufernden Roman, die Hauptstadt, derart recht elegant gelöst hat, und beiße mir auf die Zunge, dass ich überhaupt Kritik daran geübt und ein Sternderl abgezogen habe. Letztendlich habe ich mich bei all diesem unnötigen Personal immer gefragt XXX? Tut der/die was zum Roman? Erkenntnis? Handlung? Katalysator? Anything? … und wollte nur noch als fiktive Lektorin wild und gnadenlos mit dem Rotstift Figuren metzeln und ein veritables Blutbad anrichten. Im dritten Teil wird es am Anfang wieder besser. Ulrichs Schwester Agathe bereichert den Roman, die Reise zum letzten Wohnsitz des Vaters wirkt wie ein Urlaub von den mühsamen Wiener Protagonisten. Vor allem auf Ulrich wirkt sie sehr positiv und sie sieht zu Beginn auch tatsächlich wie die erste vernünftige Frau aus, in diesem Meer an hysterischen nutzlosen Weibern … aber dann … was hat sich der Autor dabei gedacht, hier die recht liebevolle, normale Bruder-Schwester Beziehung plötzlich und ohne Vorwarnung in ein inzestuöses Verhältnis kippen zu lassen, das auch nur gedacht, angedeutet und nie vollzogen wird. Innerhalb von einem Tag will Agathe ihrem Mann das geerbte Vermögen nicht zugestehen - total logisch, wenn sie sich scheiden lassen will - dann hat sie Todessehnsucht und will sich umbringen, was die erste Aktion total sinnlos macht und zum Schluss träumt sie in den nächsten zehn Minuten vom Inzest mit dem Bruder. Total bekloppt diese Konstruktion und psychologisch überhaupt nicht nachvollziehbar, wenn man ein bisschen Freud gelesen und auch verstanden hat. Aber es wird noch toller, die Handlung zerfleddert ins totale Nirwana. Agathe, die sich schon seit Jahren aufs Umbringen vorbereitet hat, hat, als sie endlich Ernst machen will, das Gift vergessen, auf den Friedhof mitzunehmen. Nun steht sie da, diese Dilettantin (wobei ja der Autor der Dilettant ist, dem so etwas einfällt), will sich umbringen und weiß nicht womit. Dann bringt sie ganz plötzlich ein Mann vom erbärmlichen Vorhaben ohne Erfolgsaussicht ab, indem er sie nur anspricht und die Guteste schöpft aus unerklärlichen Gründen spontan in der Sekunde wieder Lebensmut. Die angedeutete inzestuöse Beziehung zwischen Agathe und Ulrich verpufft auch gleich wieder ins Nichts, genauso überraschend, wie sie gekommen ist. Also das ist keine konsistente Figurenentwicklung – von Meisterwerk brauchen wir hier wirklich nicht zu sprechen. Mein Lesefreund Armin hat mir gesteckt, dass in den herausgestrichenen Skizzen aus Musils Gesamtwerk der Inzest genauer thematisiert wird, aber durch das Lektorat keinen Eingang in den Roman gefunden hat. Also entweder fehlt hier viel zu viel oder man hätte alles umschreiben und streichen müssen. Dass am Ende bei der Parallelaktion nichts rauskommt und der Roman wirkt, als ob Musil einfach aufgegeben und die Schreibmaschine hat fallen lassen, ist nur symptomatisch für dieses unrunde, unausgegorene, ausufernde Werk, das offensichtlich wie eine alles verschlingende Hydra an Handlungssträngen und Figuren nicht mehr zu beherrschen war. Wie gesagt, ein strenges besseres Lektorat hätte die genialen Analysen herausgestrichen, die schlechten Teile gestrafft und somit die großartigen Passagen derart in den Vordergrund gerückt, sodass der Gesamteindruck besser gewesen wäre. Fazit: 3 Sterne denn die gähnende Langeweile und das schlechte Handwerk wogen bedauerlicherweise gleichschwer wie die genialen Passagen.

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