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evaczyk

Posted on 8.8.2020

Manchmal ist auch das Überleben tödlich. Die Erzählsammlung der israelischen Schriftstellerin Irit Amiel gibt eine Ahnung vom Trauma der Holocaust-Überlebenden, das bis in die Gegenwart andauert. Sie haben überlebt, aber sie blieben gezeichnet, auch 70 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager. Sie verließen Europa, suchten eine Zukunft im jüdischen Staat – und fühlten sich auch dort allein, unverstanden, zum Schweigen verdammt. Die israelische Schriftstellering Irit Amiel erzählt in ihrer Kurzgeschichtensammlung «Gezeichnete» Geschichten vom Leben nach dem Holocaust, Geschichten, die deutlich machen, dass Überleben alleine kein happy end bedeutet. Was ist hier Fiktion, und wo werden Nachbarn, Freunde, Bekannte skizziert? Immer wieder beschreibt Amiel Orte und Straßen, die sie selbst kennt, das Ghetto von Tschenstochau, in dem sie als Kind lebte, damals, als sie noch Irena Librowicz hieß. Die Menschen, die sie beschreibt, sind ihre Altersgenossen aus Polen, aus Litauen, aus der Ukraine, für die mit dem Zweiten Weltkrieg und der deutschen Besatzung die Kindheit endete und der Kampf ums Überleben begann. In ihrem Buch setzt Amiel den Toten wie den Überlebenden ein Denkmal, lässt ahnen, wie hoch der Preis Überlebens ist, wenn von Freunden, Familie, Klassenkameraden nur die Erinnerung bleibt und das wissen, alleine übrig zu sein, als letzter Zeuge, dass sie je gelebt haben. «Nur ich blieb übrig, eine Gezeichnete, um sich zu erinnern und zu erinnern, zu weinen und bis zum letzten Atemzug darüber zu schreiben», heißt es in einer der Erzählungen. Das könnte auch ein autobiographischer Satz von Amiel sein. Die Einsamkeit der Opfer in den Ghettos und Todeslagern, den Hunger, die unmenschlichen Lebensbedingungen, die Angst vor Entdeckung und Verrat bei denjenigen, die im Untergrund mit falschen Papieren überlebten – das ist nur ein Teil der Geschichte von Rafael und Klara, Bruria und Elkana und all der anderen, die Amiel auf wenigen Seiten porträtiert. Manches davon ist aus der Erinnerungsliteratur bekannt, aus Gedenkstättenbesuchen. Amiels Geschichten enden jedoch nicht 1945, sie beschreiben auch den Neuanfang, die Lager für Displaced Persons, für das menschliche Strandgut aus ganz Europa. Sie schildern das Leben in Israel, wo die traumatisierten europäische Juden auf Zionisten stießen, vor denen sie sich für ihr Schicksal geradezu rechtfertigen mussten und von denen sie, so empfanden sie es jedenfalls, irgendwie verachtet wurden. Denn sie waren nicht die Avantgarde, die ihr Schicksal mit der Auswanderung nach Palästina in den 20-er oder 30-er Jahren in die Hand genommen hatten, sondern die Schwachen, die Opfer, die aus einem vom Krieg verwüsteten Kontinent kamen und sich schon wieder in einem Land unter fortwährender Bedrohung fanden. Die Protagonisten in Amiels Geschichten schwiegen, wie viele Überlebende, Jahrzehnte lang. Doch die Vergangenheit ruhte nur, wurde mit zunehmendem Alter immer lebendiger. Manche der «Gezeichneten» finden als alte Menschen doch noch Frieden mit ihrer Vergangenheit, andere scheitern endgültig an ihrem Lebenstrauma. Es sind knappe, leise Geschichten ohne Pathos, aber mit viel Traurigkeit und einem bißchen Hoffnung.

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