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elena_liest

Posted on 29.7.2020

„Was finden Sie bloß an den ganzen Büchern?“ – „Na, sie unterhalten und bilden. Aber vor allem kann ich damit in jedes Land der Erde reisen. Im Kopf.“ - Barbara Yelin, "Irmina" Mit 19 Jahren reist die deutsche Irmina nach England, um dort eine Ausbildung als Fremdsprachensekretärin zu absolvieren. In ihrem Heimatland Deutschland kommen gerade Hitler und die Nazis an die Macht und Irmina muss sich mehr und mehr für die Politik ihrer Heimat rechtfertigen, obwohl sie sich damit nicht wirklich auseinander setzen möchte. Auf einer Feier lernt sie den Schwarzen Oxfordstudenten Howard kennen, der sich aufgrund seiner Hautfarbe immer wieder mit Rassismus konfrontiert sieht. Zwischen den beiden Außenseitern entwickelt sich eine zarte Liebesgeschichte, die ein jähes Ende findet, als Irmina aus finanziellen Gründen zurück nach Deutschland ziehen muss. Dort nimmt die Geschichte einen Lauf, der beispielhaft für so viele Menschen während der NS-Zeit in Deutschland steht: Irmina entwickelt sich von der rebellischen, selbstbewussten Frau zu einer Mitläuferin, einer "Wegseherin", einer Unterstützerin des Regimes aus Bequemlichkeit. Man merkt dem Comic "Irmina" an, dass Barbara Yelin zuvor eine lange und gründliche Recherche betrieben hat. Die Fiktion beruht auf wahren Begebenheiten und ist inspiriert von den Aufzeichnungen, die Yelin von ihrer Großmutter gefunden hat. So zeichnet sie ein erschreckend realistisches Bild der Menschen während des Nationalsozialismus in Deutschland. Zwei Szenen sind mir besonders in Erinnerung geblieben: während sich Irmina in England vor Howard stellt, als dieser rassistisch beleidigt wird, schaut sie Jahre später in Deutschland einfach weg, als die Geschäfte der Juden geplündert werden. Diese Diskrepanz zwischen dem Aufbegehren und für sich und andere einstehen und dem Wegsehen und einfach hinnehmen hat mich einfach nur erschreckt. Heute denkt man sich oft: Wie konnte das damals passieren? Wie konnten so viele Menschen angeblich nicht bemerken, was direkt vor ihren Augen mit den Juden gemacht wurde? Wie konnten sie zu Mitläufern und Mittätern werden? Barbara Yelin gibt auf diese Fragen zwar keine abschließende Antwort, sie bringt die Thematik aber auf ihre ganz eigene Weise durch wunderschön schlichte Zeichnungen und einer etwas düsteren Farbgebung näher. Sie zeigt, was Bequemlichkeit anrichten kann, was passieren kann, wenn einen lediglich der eigene Vorteil interessiert, wie man langsam die Hoffnung und den Antrieb verliert, wie Anpassung die eigene Freiheit kosten kann. Der Comic ist bedrückend, aber auch sehr berührend. Man kann sich sehr gut in Irmina hineinfühlen und man kann sehr gut mit ihr mitfühlen. Außerdem finde ich die Aufarbeitung dieser Thematik durch einen Comic bzw. eine Graphic Novel auch wirklich gelungen, da hier die Vorstellungskraft durch die Zeichnungen unterstützt wird. Ergänzend gibt es am Ende noch ein sehr gelungenes Nachwort, das Irminas Geschichte in den historischen Kontext stellt. Für mich gibt es für dieses tolle und wichtige Werk 5 / 5 Sterne.

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