awogfli
Gibt es gute, anspruchsvolle und aktuelle deutsche Science Fiction? Ich war überrascht, aber die Frage kann ich seit vorgestern eindeutig mit Ja beantworten. Tom Hillenbrand wirft den Leser in seinem furiosen Science Fiction Krimi mitten ins Geschehen der Zukunft. Dabei gibt der Autor nicht den alleswissenden Erklärbären, der uns genau erläutert, wie es zu diesen Umständen kommen konnte, sondern man stolpert, wie wenn man mit einer Zeitmaschine gereist wäre, sich wundernd mitten durch die Wirren der völlig neuen politischen, ökonomischen und technischen Umwelt. Erst nach und nach erschließt sich aus der Handlung der Weg, den die Welt genommen hat, davor kann man nachdenken, Rätselraten und extrapolieren, wodurch die Ereignisse entstanden sind. Das hat mir ausnehmend gut gefallen. Ok dass ein Kaffee 1000 Euro kostet ist leicht zu erraten, das ist die Inflation, dass in Arabien irgendein Verrückter eine Atombombe gezündet hat und die gesamte Region durch Gegenschläge in eine nukleare Wüste verwandelt wurde, ist auch nicht so überraschend, aber warum zum Teufel gehört den Brasilianern und Portugiesen halb Europa? Stolz kann ich sagen, ich habe es vorher erraten, es sind die lukrativen Gezeitenkraftwerke, die durch Wellen und Tidehub sehr viel Energie erzeugen. So geht es munter weiter, alles ist sehr detailgenau logisch und komplex konzipiert, mehr will ich aber auf diesem Weg nicht verraten. Auch die Technik ist sehr spannend. Überall flitzen z.B. normale Drohnen und bionische Nanodrohnen von der Größe einer Steckmücke herum, die Menschen sind durch ihre Datenbrillen ständig online und ihre Bewegungsprofile komplett verfolgbar und durch Präkognition können zukünftige Verhaltensweisen extrapoliert werden: Big Data eingebettet in politische Ränkespiele und einen extrem spannenden Krimi mit mehreren Leichen. Herz was willst Du mehr! Kommisar Aart von Westerhuizen ist Digitalforensiker so eine Art Cyber-CSI Ermittler, der mich in seiner Attitüde ein bisschen an Kommissar Wallander und Harry Hole erinnert, aber körperlich wesentlich fitter ist. Der Kommissar, seine Analystin und der "allwissende" Big-Data-Rechner Terry versuchen den Mord an einem Mitglied des Europäischen Parlaments aufzuklären, bei dem offensichtlich Datenspuren verwischt wurden. Ein Potpurri an Verdächtigen im Zusammenspiel mit internationaler Politik und Technologie bescheren ein bis zusletzt spannendes Mörderraten. Auch die Sprache des Krimis ist großartig in bester Manier wurden vom Autor technokratische und literarische Stilmittel perfekt und sehr innovativ zu knackigen Sprüchen und Metaphern gemixt. "Ich würde gern noch etwas in Pazzis Bewegungsdaten der letzten vierundzwanzig Stunden herumstochern, aber anders als seine Leiche ist sein digitaler Kadaver weitgehend geschützt, zumindest bis der Untersuchungsrichter den Mist entsiegelt, was in etwa in zwei Stunden passieren dürfte" Einen Stern ziehe ich dennoch ab, denn bei der Figurenentwicklung ist noch ein bisschen Luft nach oben. Der Leser erfährt nichts über die Traumata von Westerhuizen, die ihn nachweislich in seiner Interaktion mit der Umwelt behindern, und auch seine Analystin Ava ist einfach etwas zu flach gezeichnet. Das ist aber Kritik auf hohem Niveau, denn Krimi- und Science Fiction Plot sind hervorragend. Eine abschließende Frage hätte ich noch an den Autor. Was ist eigentlich mit den Amerikanern passiert? Sie sind völlig vom Erdboden verschwunden. Diese Frage wurde nie beantwortet, ich kann mir auch wenig zusammenreimen und grüble immer noch. Naja Hauptsache sie sind weg ;-) Fazit: Absolute Leseempfehlung!