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awogfli

Posted on 17.7.2020

Ich mag TC Boyles Stärken in der Themenvielfalt seiner Romane - sowohl historische als auch moderne Geschichten werden sehr variantenreich in der Breite und in der Tiefe gut recherchiert erzählt. Im vorliegenden Roman werden äußerst spannende Positionen zum Themenkomplex Artenschutz gegen Tierschutz aufgegriffen: Sollen endemische Arten vor eingeschleppten animalischen Invasoren durch Töten und Jagen geschützt werden oder sollen auf die naive Art alle Tiere gerettet werden, egal was die überlebenden Rassen durch Überbevölkerung bei allen anderen Arten anrichten? Das ist hier nämlich die Kernfrage in der sich zwei Gruppen von Naturliebhabern in brennendem, unversöhnlichem Hass völlig fanatisch gegenüberstehen. Vorhang auf für die erste Fraktion: Die studierte Biologin Dr. Alma Boyd Takesue von der einen Fraktion und ihre Gruppe der Artenschützer, die auf einer abgelegenen Inselgruppe vor Santa Barbara, die von Menschenhand eingeschleppten Ratten vergiften und angesiedelten Schweine jagen lässt, damit nicht 100 indigene bedrohte Vogelarten, Füchse und andere Kleintiere von den beiden Spezies ausgerottet werden. In der anderen Ecke dieses Kampfes: Der Tierschützer Dave LaJoy und seine Studentenfreunde, die jedes Tier retten wollen, sich permanent als moralisch überlegen empfinden und in ihrer manchmal auch sehr kurzsichtigen Wut, ohne strategisch nachzudenken, Almas Kampf um ein ökologisches Gleichgewicht und Artenschutz auf den Inseln mit allen Mitteln und teilweise mit atemberaubenden Dilettantismus sabotieren. Mich erinnert der Fanatismus der Tierschützergruppe in Boyles Roman an einige militante Veganer in meiner Umgebung, die jemanden, der ein bis drei Bioschweine jährlich aus der regionalen Nachbarschaft ehrlich umbringt und komplett verspeist, als Mörder beschimpfen, aber gar nicht reflektieren, dass ihre veganen Brotaufstriche, strotzend vor Palmöl, wie Nusscreme etc. und ihre Milch- bzw. Fleischersatzprodukte aus Soja genau wie in vorliegender Geschichte hunderte Arten in Asien oder woanders ausrotten. Ich war in Borneo Indonesien auf solchen Plantagen und dort ist genau dasselbe wie in vorliegendem Roman passiert. Ansässige Orang Utans, Kleintiere, Vögel etc. werden durch die riesigen Monokulturplantagen stark dezimiert, die Ratten schlüpften in diese Nische und erledigten den Rest der bedrohten Arten. Um der Rattenplage Herr zu werden, hat man dort Giftschlangen ausgesetzt, die die heimischen Plantagenarbeiter töteten, deshalb arbeitet man jetzt mit ausländischen Hilfskräften ….. Der derzeit so moderne Veganismus hat sich bedauerlicherweise von einem ernährungstechnisch bewussten Lebensstil zu einer teilweise fanatischen Religion und Industrieproduktion entwickelt, die genau das zerstören, was sie eigentlich bekämpfen wollten. Dabei will ich ja gar nicht sagen, dass nicht jeder öfter gedankenlose, nicht nachhaltige Aktivitäten setzt oder seine Handlungen nicht in ihrer Komplexität bis zur letzten Konsequenz durchdenkt, aber sich selbst moralisch für überlegen zu halten, weil man nur verkürzt auf das Tier schaut, das unmittelbar stirbt, nicht nachzudenken und das durch eigene Verantwortung verursachte Artensterben als Kollateralschaden abzutun, ist wie Pontius Pilatus Art sich seine Hände in Unschuld zu waschen, auf die anderen mit dem Finger zu zeigen und Mörder, Mörder zu rufen. Dieses Buch thematisiert genau mit den Argumenten beider Gruppen, dass der Mensch gerade in seiner Überbevölkerung das für die Natur gefährlichste Raubtier ist, und egal was er tut, müssen Tiere sterben. Insofern liefert der Roman hier genügend Diskussionsgrundlage und Material zum Nachdenken. Aber auch Alma und ihre Artenschützer kommen überhaupt nicht strahlend bei der Story weg. Sie verwaltet wie ein Vernichtungslagerkommandant ohne Gefühlsregung und Gnade sehr pragmatisch den Massenmord an den unerwünschten eingeschleppten Arten und versucht gleich Sisyphos auf den Inseln den Urzustand der Flora und Fauna wiederherzustellen. Können und dürfen Wissenschaftler in errechneten Populationsmodellen gottgleich in die Natur eingreifen und irgendwelche menschlichen Einflüsse durch Töten von Tieren wieder auf den Stand von vor 200 Jahren zurücksetzen? Kann man überhaupt alle Einflussfaktoren der Natur auch auf so einer kleinen Inselgruppe identifizieren, einbeziehen, kontrollieren und steuern? Auch das sind durchaus spannende, schlüssige Argumente der Gegenseite, die sich der Leser während der Lektüre zwangsläufig durch den Kopf gehen lassen muss. „Ich weiß nicht, warum wir alles töten müssen“, sagte Alicia so leise, dass Alma sie kaum hören konnte, und betrachtete ihre Fingernägel, die zweifarbig lackiert waren, in Aquamarin und Brombeer. Kein Blickkontakt. Blickkontakt wäre konfrontativ gewesen, durchsetzungsfähig, und Alicia war alles andere als das, mehr Gefäß als Inhalt. „Was wäre, wenn wir die Welt sich selbst überlassen würden wie damals, bevor es uns gab – als Gott sie gemacht hat? Wäre das nicht einfacher.“ Das Töten erledigt Alma nicht mal selbst – da macht sie sich nicht die Hände schmutzig - sondern eine ausländische, australische Jägerschaft, die ganz offensichtlich mit Freude ihrer Arbeit des Dahinmetzelns nachgeht. Auch hier orte ich eine Analogie zu der Position der eingefleischten Karnivoren, die ihr Fleisch aus Massentierhaltung von anderen geschlachtet, aus dem Supermarkt beziehen und oft den Wert eines Lebens gar nicht ermessen können bzw. wollen. Mit der Zeit empfindet Alma zudem sichtlich Genugtuung bei der Qualitätssicherung und Überprüfung der Schlachtung vor Ort und bei mir dreht sich als Leserin, die vom Verstand her den Artenschützern Recht gibt, ob dieser Lust am Töten der Magen um. Beide sowohl Dave als auch Alma werden dann auch noch in ihren eigenen unumstößlichen Ansichten korrumpiert, ein grandioser Side-Kick Boyles. Bei Dave müssen zwei Waschbären, die den geheiligten Rasen seines schmucken Hauses zerstören, weg. Wohin wenn nicht töten? Natürlich auf die Inselgruppe. Eine weitere neue Rasse, die die indigenen Tierarten umbringt, wird ins abgeschottete Ökosystem eingespeist und es werden noch einige folgen. Alma weicht von ihren Grundsätzen ab, als sie schwanger wird und ihr Kind trotz Überbevölkerung unbedingt haben will. Die Story steuert wie ein Krieg zwischen einer Nationalarmee und einer verbittert kämpfenden Guerilla gepflastert mit überraschenden Wendungen rasant auf ein Finale zu, das ich sinngemäß mit Jeff Goldblums Aussage in Jurassic Park kommentieren möchte: „Die Natur findet immer noch einen anderen Weg.“ :-) Boyle kann zwar wunderbar erzählen und mit Sprache umgehen, er ist ein Meister der Fabulierkunst, aber auch seine typischen Schwächen offenbaren sich schon zu Beginn des Romans: die oft unnötige epische Breite und Redundanzen. Bereits auf Seite 50 kommt eine Geschichte doppelt vor: erstens als Zusammenfassung und anschließend im Detail. Das macht die Erzählung unnötig zäh. Ist das notwendig? Auch ein paar Hintergrundstories aus der Vergangenheit sind meiner Meinung nach etwas zu weit ausgeholt, anderseits fehlen im Gegenwartsplot bei einigen Zeitsprüngen die Übergänge, hier wäre tatsächlich mehr Text und Inhalt vonnöten. Diese angeführten Kritikpunkte sind für mich jedoch Jammern auf hohem Niveau. Fazit: Sehr gute, moderne Geschichte, über die man noch lange diskutieren und nachdenken kann. Absolut lesenswert!

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