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awogfli

Posted on 26.6.2020

Passend zum Schulanfang die Pflichtlektüre vom Herrn "Oberlehrer" Glattauer ;-) Dieses Buch war wirklich ganz anderes, als ich es mir vorgestellt hatte, aber diesmal kann ich meine nicht erfüllten Erwartungen gar nicht negativ bewerten. Am Anfang dachte ich mir: "Puh österreichische Schulpolitik, das ist wirklich nur für Lehrer und ein paar Politiker interessant, egal wie bemüht der Autor ist, sowas auch witzig rüberzubringen." Aber ich habe mich tatsächlich geirrt, es wurde immer spannender. Dabei beginnt der Autor mit dem üblichen Lehrergejammere über PISA und sich als Lehrender nicht messen lassen zu wollen, was auf den Universitäten schon seit Jahrzehnten kein Problem darstellt und mich immer wieder verwundert den Kopf schütteln läßt, legt aber dann sehr strukturiert und sachlich fundiert dar, warum die Messmethode bei uns irgendwie falsch angewendet wird. Am Ende darf der Leser sogar einen realen PISA Leseverständnistest absolvieren. Im Prüfungsbeispiel geht es tatsächlich um die Geschichte von Macondo aus Gabriel Garcia Marquez' Roman Hundert Jahre Einsamkeit, dessen komlexe blumige Sprache sicher für den Test des Leseverständnisses von Schüler Otto Normalverbraucher um 2-3 Stufen zu hoch gegriffen ist. Auch die Auswahl der Probanden in die PISA-Stichprobe ist bei uns wenig systematisch - eben typisch österreichisch. Glattauer thematisiert und pointiert messerscharf auch den ewigen österreichischen Zankapfel der Gesamtschule versus der Segregation der geistigen "Eliten" bereits im Alter von 10 Jahren durch die Hauptschule und die AHS. Auch das Problem mancher Schulbezirke und Klassen von Schülern mit nicht Deutscher Muttersprache von 100% durch die Ghettobildung in der Stadtansiedlung und der Umstand, dass solche Kinder dann nicht wie im Idealfall fünf Sprachen sehr gut sprechen (Serbisch, Kroatisch, Deutsch, Englisch, 2. Fremdsprache) sondern eben gar keine Sprache beherrschen, wird ausführlich analysiert. Gewürzt werden diese ernsten Probleme mit Anekdoten live aus dem Schulalltag, passend zum jeweiligen Thema, was dieses Sachbuch ausgezeichnet auflockert. Natürlich gibt es auch ausreichend Lehrer Selbstmitleid in diesem Buch, wie arm und ausgebrannt diese Menschen sind, die 3 Monate Urlaub im Jahr haben, im Alter recht gut verdienend frustriert auf die Pensionierung warten, aber Glattauer geht auch durchaus manchmal kritisch mit den Umständen um und erklärt auch in einigen Fällen sehr anschaulich die Gründe für diesen Frust. Ich selbst bin ja diesbezüglich sehr kritisch eingestellt, denn ich durfte ja von 1997-2000 mehr als 1000 Lehrer im Fachgebiet Internet auf der Uni ausbilden und muss sagen, dass ich noch nie vorher als auch nachher derartig demotivierte, arbeitsscheue und lernunwillige Studentengruppen im Rahmen der Erwachsenenbildung gehabt habe. Als in einem Kurs zur Homepagegestaltung an der Schule eine Hausübung anstand, gab es jedesmal einen Aufstand - Sowas! Von einem Lehrer eine Hausübung verlangen! Die prinzipielle Einstellung dieser Berufsgruppe, die unsere Kinder unterrichten sollte, zur Weiterbildung und dem lebenslangen Lernen war gelinde gesagt äußerst fragwürdig und zwar bedauerlicherweise beileibe nicht nur im Rahmen von Einzelfällen. Deshalb beurteile ich das Gejammere auch in diesem Buch etwas strenger, denn es nervt mich einfach extrem, da ich die dahinterstehende Einstellung auch live kennenlernen durfte. Fazit: Auf jeden Fall ist dieses Buch für Österreicher sehr relevant, spannend und informativ, ich habe keine Ahnung, ob dies auch für meine deutschen Buchfreunde gilt, denn ich hab die Befürchtung, dass die schulpolitischen Probleme und Spezifika tatsächlich hausgemacht österreichisch sind und für die deutsche Situation wenig Relevanz aufweisen. So würde ich für Österreicher sogar zu 3,5 Sternen tendieren.

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