awogfli
Was mich zu Beginn und bis mehr als zur Hälfte des Romans noch restlos begeistert hat - nämlich die innnovative stilistische Tagebuchform und die unterschiedlichen Erzählperspektiven der handelnden Personen, die alle Aufzeichnungen führen - wurde schlussendlich zum größten Ärgernisfaktor in diesem ansonsten so brillianten Roman. Sobald die Vampirjägertruppe so bei ca. Seite 300 auch physisch zusammengekommen ist und alle handelnden Personen dieselben Dinge erleben, wendet sich diese Innovation gegen sich selbst, da alle Tagebuchaufzeichnungen unentwegt untereinander abgeglichen werden, und ein und dasselbe Ereignis permanent aus unterschiedlichen Sichten so lange wiedergekäut wird, bis es komplett ausgelutscht und blutleer ist. So geschehen zum Beispiel bei dem Ereignis des Wundmals durch die Hostie, das ich mindestens SECHS Mal aus unterschiedlichen Perspektiven und zu unterschiedlichen Zeitpunkten immer und immer wieder lesen musste. Ich weiss, dass es 1897 noch kein professionelles Lektorat gegeben hat, aber eine helfende Hand mit einem Rotstift, die absatzweise diese unsäglichen und seehr langweiligen Redundanzen herausstreicht und eliminiert, hätten dem Roman sehr geholfen und ihn ohne viel Aufwand auf 5 Sterne geschraubt. Ich hatte das Gefühl: Je länger der Roman dauert, desto mehr Blut verliert er - fast ist es so, als ob Dracula höchstpersönlich sukzessive alles Leben aus ihm herausgesaugt hätte. Sogar das Finale ist sehr lapidar und kein bisschen mehr spannend. Aber wie gesagt - 100 Seiten weniger und meine Kritik wäre obsolet. Ansonsten inhaltlich und sprachlich sehr ansprechend und genial: Wundervolle Beschreibungen von Landschaften, Kultur und gruselig abergläubischer Landbevölkerung, von Gebäuden wie das Schloss oder das Irrenhaus, liebevolle Entwicklung von allen Figuren insbesondere den Antagonisten wie dem verrrückten Renfield, dem Grafen,... Großartige Sittenbilder der Entstehungszeit z.B. kannte man 1897 keine Blutgruppen. Das ist schon sehr putzig beschrieben, dass die Qualität der Transfusion von der Rechtschaffenheit & Konstitution des Spender-Mannes abhing - Frauen wurden gar nicht als qualitiativ geeignet betrachtet. Am lustigsten fand ich die philosophische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Aufklärung in einem fantastischen Horrorroman. Alle Figuren versicherten sich nachdrücklich bei Erleben des fantastischen Horrors unentwegt der eigenen Modernität und Wissenschaftlichkeit. "Wer hätte wohl noch vor einem Jahr, inmitten unseres wissenschaftlichen, skeptischen, nur an Tatsachen orientierten neunzehnten Jahrhunderts eine solche Möglichkeit auch nur in Erwägung gezogen?" Spannend ist auch noch, wie originalgetreu eigentlich manche Filme waren, die ich zum Thema Dracula gesehen hab. Fast alles ist schon der Feder von Bram Stoker entsprungen und nicht der der Filmemacher. Im Prinzip hat Stoker die alten Legenden zwar zusammengefasst, aber die Figur Dracula quasi im Alleingang mit all ihren Stärken und Schwächen erfunden und geprägt. Fazit: Eigentlich 3,5 Sterne, aber weil mich das Buch zum Ende hin gar so genervt hat, kann ich ums verrecken nicht auf 4 Sterne aufrunden. Nichtsdestotrotz eine Lese-Bildungslücke, die es wert ist, gestopft zu werden.