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awogfli

Posted on 19.6.2020

Am Anfang habe ich mich sehr über das Thema von Boyles Roman gefreut, denn Afrika kannte ich literarisch abgebildet so gut wie gar nicht außer Trojanov und Conrad, und die typische episch breite Fabulierkunst von T.C. Boyle war auf den ersten Seiten dieser Geschichte eher ein Vorteil als ein Manko: Man roch förmlich sowohl die afrikanische Wüste als auch das dreckstarrende, nach Fäkalien stinkende London. ....und dann musste es der Autor dermaßen übertreiben - übrigens ein Paradefehler von T.C. - sodass ich teilweise am Ende des ersten Teils wirklich ein bisschen genervt war. Man kann fast von määndernder Sprache sprechen, hier geben sich bis zum Erbrechen ausufernde Manierismen, methaphernschwangere Beschreibungen und einige böse Anachronismen derart übel die Klinke in die Hand, flankiert von der Beihilfe eines Übesetzers, der auch gaaanz tief im Wörterbuch der fast nie verwendeten abstrusen Synonyme gekramt hat, sodass es mich als Leser manchmal richtig geschüttelt hat. "Es ist ein Alptraum. Wie der Versuch, den Himalaya auf Rollschuhen zu bezwingen oder den Ärmelkanal mit einer eisernen Kanone am Bein zu durchschwimmen. " Mein Lese-Mitstreiter Armin nannte es ganz treffend Gewimmel und genau wie ein kleinkindliches Wimmelbilderbuch ist die Geschichte strukturell aufgebaut. Die aus dem Ruder gelaufene Erzählsprache, die Zillionen von Figuren, die diesen Roman bevölkern, die hundert kleinen Handlungsstränge. Es passiert manchmal viel zu viel, sodass sich das Gehirn zu verknoten droht. Auch die Beziehungen der Figuren untereinander sind derartig mit Unwahrscheinlichkeitsantrieb (a la man trifft sich im Leben mindestens 6 Mal) konzipiert, dass dem Leser bald klar wird: Dies ist die 6. Potenz der der Fiktion, die Urmutter des Märchens, das Lehrbuch des Baron von Münchhausen, wenn er denn je eines gehabt hätte. Odysseus und Kara Ben Nemsi treffen tausendundeine Nacht in Afrika und Oliver Twist in London. ....und dann kann man sich als Leser ganz allmählich wieder anfreunden mit diesem außerdordentlich schrägen Konzept, man könnte es auch eine satirische Überspitzung des Genres Abenteuerroman bzw. -märchen nennen und vermag auch den Witz dahinter ein bisschen zu schätzen. Zum Beispiel meine persönliche LieblingsFigur Ned Rise, der Auferstehungslazarus mit passendem Namen, den man wie eine räudige Katze mindestens neunzehn Mal totschlagen muss, bis er endlich wirklich die Radieschen von unten sieht und nicht mal dann funktioniert es. Oder der zweite Hauptprotagonist Mungo Park, fast ein Odysseus, der aber nicht wie sein griechisches Vorbild mit gewiefter Verschlagenheit brilliert, sondern wie ein tumber Tor mit mehr Glück als Verstand durch das Boylsche Abenteuer stolpert und dem letztendlich seine unsagbar dummdreiste-dämliche britische Präpotenz in fernen Landen zum Verhängnis wird. Oder Mungos Geliebte und Frau Allie, die irgendwann verständlicherweise aus sehr menschlichen Gründen aus ihrem Penelpoe-Komplex ausbricht..... Ihr seht schon, nahezu alle Haupt-und Nebenfiguren sind extrem liebevoll entwickelt, auch jede einzelne auf der afrikanisch-maurischen Seite, was eben zwangsläufig zum oben erwähnten Gewimmel führt. Die bildhafte anachronistische Sprache versöhnte mich dann in einigen Szenen mit ihrem Humor zum Beispiel als ein Arzt die Wiederauferstehung von Ned Rise erlebt: Wäre ein Wunder des Weges gekommen und hätte ihn georfeigt, als er eben über seinem kleinen Bier und den Keksen saß, er hätte es höchstwahrscheinlich angebrüllt und dahin zurückgejagt, wo es hingehörte, und falls er erbost genug gewesen wäre, ihm auf lateinisch einen kleinen Vortrag über die empirische Unmöglichkeit seiner Existenz gehalten. Was mich an Boyle in all seinen Werken faziniert, ist die enorme Recherchearbeit des Autors. Sehr viel Fachwissen wird punktgenau, realistisch und detailgetreu in den Plot eingewebt, das erstaunt und begeistert mich immer wieder, denn ich weiß, wieviel Arbeit so etwas erfordert, und dass sich die meisten Autoren nicht diese Mühe machen. Auch diesmal hat T.C. gute Arbeit geleistet. Zufällig stolperte ich erneut über den urgrauslichen Guineawurm, dessen Bild ich damals mit 21 Jahren erschüttert und angewidert in Pschyrembels klinischem Wörterbuch betrachtet habe. In diesem Lexikon für Medizinstudenten wird genau beschrieben, wie man den Wurm mit einem Staberl aufwickelt, was auch in der Geschichte detailgetreu thematisiert wird. Diesmal stieß ich aber erstmals in seinen Werken auch auf einen vermeintlichen Recherchefehler, bin aber ob der Stärke Boyles fast geneigt zu glauben, dass er hier möglicherweise mehr weiß als ich. Die notgeile österreich-ungarische Gräfin wird als eine Base des englischen Königs dargestellt, was angesichts der Adelsbeziehungen zwischen Habsburgern und Welfen sehr unwahrscheinlich ist. Nun aber wieder zur Geschichte. Der letzte Teil des Afrikabenteuers und somit die zweite Expedition zum Niger begeisterte mich doch sehr und entschädigte auch für manche ausufernden Exzesse davor sowohl im Plot, in den Figuren und auch in der Sprache, da einige Szenen, schräge Kausalitäten und Verbindungen sich erst ganz zum Schluss aufklären. Das Finale gipfelt sowohl metaphorisch als auch real im zwangsläufigen Treiben in die Arme der Feinde mit Exitus und Auferstehung. Jeder Charakter erntet genau das, was er/sie verdient, insofern ist Boyle derart konsequent, dass es eine Freude ist und er tatächlich ein Mitglied einer übergeordneten Gerechtigkeitsliga sein könnte :D Fazit: Ich bin mit Blut, Schweiß, und Tränen durch Afrika und London gewandert, habe mir Blasen geholt, mich geekelt und mich angestrengt, ich habe viel gelernt, mich abgemüht, ABER DAS ABENTEUER HAT SICH GELOHNT!

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