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awogfli

Posted on 18.6.2020

Dieses Buch handelt von einer Jugend-Generation, die man mir näher erklären muss, weil sie sich für mich sehr mysteriös gebärdet. Schon als ich das erste Mal kurz in Dawson's Creek hineingeschaut habe, war mir bewußt, dass oben genannte Kohorte so völlig anders ist, als meine Generation: Wie altkluge vorzeitig vergreiste Jodas stolpern sie von Weltschmerz gepeinigt, permanent philosophierend und gehirnwichsend ununterbrochen Jeden zitierend, der nur irgendwie etwas Gescheites gesagt hat, durch ihre Teenagerzeit, anstatt einfach raus aus ihren vordefinierten Innenräumen zu gehen und zu leben. Auch ich habe in meiner Teenagerzeit die relevanten Philosophen und Psychologen gelesen und verstanden, für mich waren sie aber alternde Männer, die mir damals sehr wenig zu sagen hatten, da ich mehr mit meinem Leben und dem Überleben beschäftigt war. Auch die relevanten Filme, Bücher, psychologischen Grundlagen und Sozialtheorien habe ich verschlungen und auch ab und an diskutiert, aber tatsächlich nur gelegentlich. In einer Zeit der 80er, als einem jeden Tag die Atombombe auf den Schädel fallen konnte, also die Bedrohung nicht im Fernsehen virtuell hinter den Butzenglasscheiben, sondern sehr real war, versuchten wir jeden Tag so zu leben, als sei es unser letzter gewesen. Also Aktion statt permanente Reflexion nicht getaner Taten. Juli Zehs Teenager schalten nun im Vergleich zu den Dawson's Creek Kids auch noch den Turbo ein, denn der ewige Weltschmerz und prinzipiell alle Gefühle sind mittlerweile auch passé, es regiert nurmehr eine analytische Eiseskälte, unendliche Gleichgültigkeit und grenzenlose Misantropie, sie glauben an Nichts und sind die UrUrenkel der Nihilisten. Lediglich die Herumphilosophiererei und das Gehirnwichsen sind geblieben. "Auch wenn Sie selbst verdammt jung sind, liegt doch etwas zwischen uns, das gemeinhin eine Generation genannt wird, obwohl man es besser einen zeitgeistlichen Tapetenwechsel nennen sollte. Ihr Geburtsjahr mag mit einer Neunzehn-Sieben beginnen, vielleicht sogar mit einer Neunzehnsechs, während ich der Achter Serie angehöre, eine späte Acht, beinahe schon eine Neun. [...] Auf dem Gebiet des Seelischen gibt es nichts, das ein Psychologe den Vertretern meiner Generation erzählen könnte. Wir kennen die Funktionsweisen von Traumata. Wir wissen, was Projektionen, Minderwertigkeitsgefühle und Schuldkomplexe sind. Wir kennen Ödipus und Elektra, haben Freud, Adler, Jung und Psychologie heute gelesen... [...] Wir sind der banalen und kleinkrämerischen Reglementierungen müde, die uns bei Strafe zwingen, ein Licht an unser Fahrrad zu schrauben, mit dem Rauchen bis zum sechzehnten Lebensjahr zu warten und unsere Autos für zwei Euro pro Stunde in ein Kästchen zu stellen, das irgendjemand fein säuberlich auf den Boden gemalt hat, während wenige Flugstunden entfernt ganze Welten verbrennen, vertrocknen, ersaufen, explodieren, verbluten." Juli Zeh führt den Leser durch diese fremde Welt wie ein erfahrener Antropologe, der sein Geschäft in der Verhaltensforschung mit Tieren gelernt hat. Fast scheint es so, als sei der Roman eine Form der Raubtierrudelbeobachtung in der Serengeti, um das Ökosystem der Ernst Bloch-Schule detailliert und brilliant zu analysieren. Das macht Freude, erklärt jeden der Hauptprotagonisten - Lehrer wie Schüler inklusive aller Beziehungen und Machtverhältnisse so erschöpfend tiefgehend und logisch in nahezu allen Facetten, teilweise auch in solchen, an die ich als Leserin noch gar nicht gedacht habe. Dann kommt dramaturgisch perfekt inszeniert auch noch das mittelhübsche, aber sehr interessante männliche Arschloch in der Person des neuen Mitschülers Alev ins Spiel, das jedem intelligenten Teenagermädchen komplett den Verstand raubt und das wie selbstverständlich das bisher eingespielte soziale Geflecht der Schule vollständig durcheinanderwirbelt. Ohne Moral und Skrupel, aber auch nicht komplett bösartig, sondern eher so wie ein Kind einem Käfer die Beine ausreißt, nur um zu sehen, was passiert, werden sozialwissenschaftliche und psychologische Experimente im Feldversuch durch Elemente der Spieltheorie inkl. Gefangenendilemma an den lebenden Probanden der Schule durchgeführt. Das menschliche Schachspiel wird Zug zum Zug aufgestellt, um gleich einem D-Zug fatalistisch und auch sehenden Auges dem ultimativen Abgrund menschlicher Untiefen und der finalen Katastrophe zuzusteuern. Manipulation, Verführung, Sex, Erpressung, Macht, Mißbrauch von Schutzbefohlenen hier entsteht die Täter-Opfer-Umkehr nicht als Ausrede für Straftaten von Erwachsenen, sondern ist tatsächlich der ultimative Sündenfall der Jugendlichen. Oh so würden die Teenager dies auf keinen Fall bezeichnen, aber ich als alte Vettel darf mit meinen antiquierten Moralbegriffen der 60er-Jahre Geborenen auf jeden Fall derart urteilen, muss ich sogar - ich unbrauchbares gefühlsduseliges, moralinsaures Relikt dieser längst überholten Vergangenheit ;-). Die Sprache dieses Romans hat mich fast am meisten begeistert. Juli Zeh schüttelt die wundervollen knackigen Metaphern nur so aus dem Ärmel und formt sie sogar mitunter zu großartigen Aphorismen. • Gott ist Jurist. Er schafft Regeln und überläßt die Umsetzung anderen. • Etwas Neues stand im Begriff zu beginnen, und Smutek freute sich darüber wie ein Masttier über die frische Luft, während es zum Schlachter geführt wird. • Das Geräusch einer ins Schloss krachenden Tür im unteren Stockwerk trat dem Zauber des Augenblicks den Schemel weg. Als mein Mann das Buch vor einem Jahr gelesen hat, meinte er, dass es ihm ein bisschen zu lang und zu langatmig war. Anfangs konnte ich das nicht verstehen, aber ca. auf Seite 400 musste ich ihm dann für kurze Zeit doch zustimmen. Manchmal übertrieb es die Autorin mit dem gemächlichen Aufbau der Figuren und Hintergründe, indem einfach viel zuwenig passierte und das Tempo total aus der Geschichte herausgenommen wurde. Eine Kürzung des Romans von 50-70 Seiten hätte dem Plot ohne Qualitätsverlust wesentlich mehr Drive und Rasanz gegeben. Das ist aber Jammern auf allerhöchstem Niveau. Fazit: Absolute Leseempfehlung von mir!

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