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awogfli

Posted on 18.6.2020

Was ist das eigentlich mit mir und T.C. Boyle, dass es nahezu keinen Roman gibt, der mich gänzlich von den Socken reisst und mich restlos begeistert? Gut dieses Buch ist gut - ok was sage ich - es ist sogar sehr gut, aber irgendwas ist immer, sodass ich erst einmal wirklich vollen Herzens 5 Punkte vergeben konnte. Diesmal bin ich irgendwo bei 4,5 und runde wohlwollend auf. Es fing ganz wunderbar an: Ganz Boyle untypisch sparte sich der Autor das ewige Herumgelabere warf den Leser mitten in die Geschichte - in zwei Welten oben und unten, arm und reich, Amerikaner und Mexikaner abwechselnd beschrieben. America, auch the Tortilla Curtain, habe ich ganz bewußt heuer aus meinem SUB gezogen, denn in Anbetracht der Tatsache, was sich gerade mit Donald Trump in Amerika an Rassismus gegen die Mexikaner abspielt, ist dieses Werk sicher grade topaktuell. Dabei fiel mir auf, dass der Roman eigentlich vor 22 Jahren als überspannte Satire mit auf die Spitze getriebenen klischeehaften Archetypen geplant war. Leider hat die Realität die Satire schon längst überholt. Die ehemals bürgerliche grüne Linke ist in die Jahre gekommen und hat sich schleichend von grün zu braun (und das meine ich wie es hier steht) entwickelt - ist somit faulig geworden. Mit den Tieren hat man noch immer vollstes Mitleid und Verständnis, und lebt unter ihnen ohne Furcht auch wenn die wilden Coyoten einem zwei Hunde töten, der Fremde an der Ecke ist aber gefährlich gehört ausgesperrt, vernichtet und nötigenfalls nihiliert. Ein Menschenleben zählt nix ein Tierleben umso mehr, deshalb fordert man auch, völlig alle Relationen verlierend, vehement die Todesstrafe für Carnivoren und andere, die Tiere aus welchen Gründen auch immer töten. Diese BOBOS - ja es gibt diesen Typus bereits zu Hauf auch bei uns und eine Bezeichnung wurde auch gleich kreiert - bevölkern in Wien bereits mehrere Bezirke - wollen in schöne Ecken ziehen auch aufs Land und sobald sie dort sind, agitieren sie gegen alle anderen und sperren sie aus. Dies ist auch die perfekte Analogie zum Roman. Man hat viel Geld, lebt nachhaltig und zeigt überheblich mit seinem Lebensstil und dem moralischen Zeigefinger auf die Armen, die man erstens unbedingt aus seinem eigenen Leben hinausschmeissen muss, und die einfach gezwungen werden sollten, sich anders zu verhalten. Natürlich ist man für Ausländer so ganz prinzipiell, aber sicher nicht in der eigenen privaten Waldorfschule - wo kämen wir denn da hin! Selbstverständlich nutzt man den eigenen SUV aber nur gaanz selten, um ins Wochenendhaus in der Natur zu fahren, aber wehe ein armer Tropf von Pendler vom Land, der nur in die Arbeit fahren muss, braucht einen Parkplatz im eigenen Stadtwohnbezirk, der soll ruhig öffentlich fahren der Umwelt zuliebe 2 Stunden mehr pro Tag verplempern, denn die Parkplätze sind nur für die eigne Community reserviert. Ich kann ja über die derzeitigen Leute in Amerika nicht reden, weil ich nicht dort wohne, aber da dieser Achetyp auch bei uns schon komplett durchgeschlagen hat, kann man diesen Roman von Boyle als regelrecht prophetisch bezeichnen, dass die 22 jahre alte "Dystopie" der Gesellschaft exakt Realität wurde. Delany ist Umweltschützer und Demokrat hat sich mitten in die Natur gebaut, die er respektiert, aber wehe er sieht ein mexikanisches Gesicht der Armut, dann kennt er keine Gnade mehr. Da wird zwar schon zu Beginn noch mit ein paar prinzipiellen ethischen Skrupeln gekämpft, aber durch die perfekte Täter-Opfer Umkehr wird das mexikanische Opfer eines Autounfalls, bei dem man erstens medizinische Hilfeleistung unterlassen und die illegale Notlage ausnutzend einen Schwerverletzten mit 20 Dollar abgespeist hat, zu einem mexikanischen Betrüger, der einem absichtlich ins Auto gelaufen ist und somit um 20 Dollar Betrug begangen hat. So geht es in der abgeschotteten gutbürgerlich reichen Siedlung weiter: Erst kommt ein Tor, um die braven anständigen Leute vor dem bösen armen Gesocks zu schützen und dann eine Mauer und dann bewaffnet man sich bis an die Zähne. Auch die mexikanische Sicht - die Gesellschaft unten wird sehr gut beschrieben, mit wenig Sozialromantik behaftet, sondern genauso brutal und schäbig wie sie eben ist: Der tägliche Kampf ums Überleben von Candido dem Familienvater in spe auf der Suche nach einem Job und den anderen Armen im Canyon. Natürlich muss man als Mann auch weiter nach unten auf die Schwächeren treten, darf seine Frau verprügeln, wenn man nicht gut drauf ist, junge Männer vergewaltigen andere Frauen ohne jede Skrupel und rauben sich einfach gegenseitig permanent aus. So schlecht kann es einem gar nicht gehen, dass man nicht ohne Not noch jemandem, der schutzlos ist, etwas ganz Furchtbares antun kann. Irgendwann kurz vor Ende fand ich die Geschichte dann etwas langweilig und vorhersehbar. Ist man normalerweise bei Boyle ganz überfordert von dem Gewusel an Aktivitäten, Beschreibungen, Figuren und Handlung, ist diesmal irgendwie alles zu normal und dramaturgisch wenig überraschend. Das ist auch der kleine Kritikpunkt am Roman. Diesmal werden die typischen Schwächen des Autors in Bezug auf Übertreibung so unterrated, dass sie nicht zu Stärken, sondern zu erneuten aber nur ganz leichten Schwächen mutieren. Das Ende ist dann wieder grossartig, einerseits sozial-romantisch klischeehaft, aber im Sinne des brutalen Credos des Romans dennoch überraschend.

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