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awogfli

Posted on 16.6.2020

Am Vorabend der angolanischen Revolution mauert sich die portugiesisch-stämmige Ludovica, nachdem sie einen Einbrecher in Notwehr erschossen und auf ihrer Dachterrasse begraben hat, aus Angst für dreißig Jahre in ihrer Wohnung ein und schottet sich somit in einem selbst gewählten Exil von den Wirren des Jahrzehnte andauernden angolanischen Bürgerkriegs ab. Es klingt fast wie ein utopisches Märchen, könnte aber dennoch wahr sein. Sie braucht ihre umfangreichen Vorräte auf, sammelt Regenwasser, züchtet Hühner auf ihrer Dachterrasse im elften Stock des Hochhauses der Hauptstadt Luanda, schießt Tauben mit einer Steinschleuder und wird auch noch durch einen Feigenbaum versorgt. In wundervoller Manier und mit dem typisch episch breiten, sprachlich gewundenen und mystisch angehauchten lateinamerikanischen Schreib- und Erzählstil wird hier die Geschichte einer einsamen Frau, ihr Überleben, und das von einigen Protagonisten, die direkt und indirekt Einfluss auf das Schicksal von Ludo nehmen und genommen haben, erzählt. Wer Gabriel García Márquez liebt, der wird eine helle Freude an diesem Roman haben, wobei erstens nicht Myriaden von verwirrendem Personal mit nicht mehr nachvollziehbaren Verwandtschaftsverhältnissen in der Geschichte herumwuseln und zweitens der Plot derart nachvollziehbar ist, sodass der Leser den Faden nicht verliert. Mir kommt fast vor, dem Autor Agualusa ist eine kürzere, knackigere, bessere Márquez-Geschichte im Stile des magischen Realismus gelungen als das Original Hundert Jahre Einsamkeit. Am Ende in Form eines grandiosen Finales treten alle Personen, die irgendetwas mit Ludos Schicksal zu tun hatten, als die mittlerweile alte Dame sich endlich anschickt, die Wohnung zu verlassen, gleichzeitig in die Handlung ein und lösen in einem Netzwerk alle Verflechtungen aus Schuld und Sühne der Vergangenheit auf. Dies ist zwar vom Timing her sehr unwahrscheinlich - der Autor benennt sogar eine Kapitelüberschrift als „Die subtile Architektur des Zufälligen“ - aber so sind sie eben, die lateinamerikanischen Geschichten: voller Zufälle, die in ihrer gewollten fiktionalen Konstruktion einen märchenhaften tieferen Sinn ergeben. Nebenbei vermittelte der Roman en passant auch noch sehr viel Wissen und strukturierte Informationen über die Hintergründe, die Beteiligten und die Politik im Bürgerkrieg in Angola. Ich kann mich noch sehr gut an meine Kindheit erinnern, als die Nachrichten voll waren, mit den Namen der ganzen Splittergruppen bzw. Kriegsbeteiligten wie SWAPO, ANC, FNLA, MLPNA, UNITA und wie sie alle hießen, als keiner in Europa mehr nachvollziehen konnte, wer, was, wie, mit wem paktierte und worum es in diesem Krieg eigentlich ging. "Du und Deine Freunde, ihr nehmt immer den Mund voll mit so großen Worten: Soziale Gerechtigkeit, Freiheit, Revolution, und die Leute vegetieren vor sich hin, werden krank und sterben. Große Reden machen nicht satt. Was die Leute brauchen, ist frisches Gemüse und wenigstens ein Mal in der Woche eine richtige Fischsuppe. Mich interessiert nur die Revolution, die mit einem vernünftigen Essen beginnt." Magno Moreira Monte kam durch eine Satellitenschüssel zu Tode. Er fiel vom Dach, als er versuchte, sie zu befestigen. Anschließend fiel ihm die Schüssel auf den Kopf. Manche sahen darin eine ironische Allegorie für die neuen Zeiten. Der frühe Agent der Staatssicherheit, letzter Repräsentant einer Vergangenheit, an die sich in Angola nur wenige gerne erinnern, war von der Zukunft erschlagen worden; die freie Kommunikation hatte gesiegt, über den Obskurantismus, das Schweigen und die Zensur; Weltgewandtheit hatte den Provinzialismus erschlagen." Sprachlich-stilistisch bin ich zudem restlos begeistert und auch die subtile Ironie, den Wortwitz und die wundervollen Allegorien habe ich sehr genossen. Alleine wenn man sich das Inhaltsverzeichnis durchliest, sind die Kapitelüberschriften derart poetisch, dass es schon auf Seite drei, ohne jemals einen ganzen Satz des Autors gelesen zu haben, die reine Freude ist. Wenn wir jetzt nicht erst Juli hätten, sondern schon Oktober, würde ich schwören, dass dieses Buch ganz oben auf meine Bestenliste kommt. Soweit möchte ich jedoch noch nicht gehen, denn das Jahr ist noch jung und die wundervollen Bücher sind auch noch nicht alle ausgelesen. Fazit: Ein bisschen lateinamerikanisches Märchen mitten in Afrika, der Überlebenskampf von Rapunzel im selbstgewählten Exil fast schon à la Marlen Haushofer in Die Wand am Dach eines Hochhauses, viel Revolution und politische Wirren, Schuld und Sühne, gute Absichten und böse Taten, viele atemberaubend kuriose Verflechtungen in den Beziehungen der Protagonisten, sehr viel kluge philosophische Bonmots mit Ironie und einer wundervollen Sprache gewürzt - fertig ist dieser köstliche lateinamerikanisch-angolanische Eintopf. Chapeau! Bisher mein Buchstoffhöhepunkt – eine absolute Leseempfehlung von mir.

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