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awogfli

Posted on 16.6.2020

Die Autorin macht gleich im Vorwort klar, welches Sachbuch sich der Leser nicht erwarten soll. Es beinhaltet keine allgemeine politische Analyse Russlands, sondern stellt einen sehr persönlichen Blick auf dieses widersprüchliche Land dar, der durch die Brille von Carola Schneider und der breiten Auswahl an interviewten Bekannten geworfen wird. Ich mag solche klaren Ansagen, wenn Schriftsteller*Innen gleich zu Beginn die Grenzen abstecken und dem Leser nicht zu viel versprechen. …. und dann wird tatsächlich genau das Zugesagte geliefert: Ein buntes Kaleidoskop an persönlichen Geschichten, Lebenssituationen, Meinungen und Problemen, die jedoch in Summe dennoch einen wirklich guten realistischen nachhaltigen Eindruck von diesem weiten, sehr heterogenen Land vermitteln. Die Wahl der Interviewpartner wurde klug vorgenommen. Da gibt es eine Menschenrechtsaktivistin, zwei Künstler, Jungunternehmer in Moskau, zwei Bauern in Sibirien, zwei Journalisten, einen Putin Propagandisten, einen prorussischen Fußballmanager von der Krim, einen Moskauer Pensionisten … So wie die Auswahl der Beispiele nicht tendenziös vorgenommen wurde, denn es werden die Geschichten und Meinungen von Putin-Fans über Putin-Indifferente bis ausgewiesene Putin-Gegner dargelegt, ist auch die Verortung der Beiträge sehr ausgewogen: es gibt sowohl einen Blick auf Sibirien, Moskau aber auch auf die Krim. Diese Struktur des Sachbuchs hat mir wirklich ausnehmend gut gefallen. Dazu zählt auch die Vorgehensweise, einige Gesprächspartner in einem Abstand von zwei Jahren erneut zu interviewen, um die Entwicklung im Land abzubilden. Einen der dargestellten Künstler kenne und schätze ich übrigens seit längerem. Die Autorin hat doch tatsächlich den russischen Künstler Wassilij Slonow interviewt, den ich bei der Viennafair 2013 (größte Kunstmesse in Wien) so mutig gefunden habe, da er Sotschi ironisch kritisierte und dessen Namen ich vergessen hatte, mir zu notieren. description Leider endet das Buch völlig abrupt mit dem letzten Satz des letzten Interviews, und dies ist auch mein einziger Kritikpunkt an diesem ansonsten so hervorragenden Werk. Am Ende hätte ich mir eine inhaltliche oder strukturelle Klammer von Carola Schneider gewünscht. Ein Resümee, ein Fazit, eine persönliche Meinung, einen Ausblick, eine Begründung, warum die Autorin die Interviewpartner genauso ausgewählt hat – einfach irgendwas, das einer persönlichen Stellungnahme gleichkommt, auch wenn sie möglichst neutral formuliert sein mag, aber nicht sein muss. Hier tritt mir die Autorin einfach viel zu sehr anonym in den Hintergrund des Gesagten und fungiert quasi nur als Herausgeberin eines Straußes an Meinungen und Geschichten. Es ist mir einfach zu wenig, wenn ihr Name draufsteht, sie sollte sich einfach nicht vor einer kurzen persönlichen Stellungnahme drücken. Wahrscheinlich hätte mir sogar schon eine Danksagung an die Interviewten als strukturelle Klammer gereicht, um das Werk abzurunden. Fazit: Ein sehr gutes Sachbuch über Russland, das gerade weil es persönliche Geschichten und Meinungen darlegt und keine politische Analyse liefert, so einzigartig und erhellend dieses Land beschreibt.

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