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awogfli

Posted on 31.5.2020

Wow dieser Sasa Stanisic kann wirklich erzählen! Liebevoll präsentiert er uns kuriose Geschichten aus einem kleinen bosnischen Dorf, durch die wir den Protagonisten Aleksander, einen Jungen irgendwo zwischen 10 und 15 Jahren, seine Familie und eigentlich die ganzen Bevölkerung dieses Mikrokosmos kennen und lieben lernen. Dabei geht es um ganz normale Erlebnisse, wie das Leben eben so spielt, es ereignen sich teilweise sehr lustige, entzückende und dann auch wieder unglaublich herzzerreißende Szenen. Ich liebe diese Art von Familiengeschichten. Als Aleksander von seinem Opa einen Zauberhut und einen Zauberstab geschenkt bekommt, wird diese Szene mit folgenden Erklärungen begleitet: "Im Hut und im Stab steckt eine Zauberkraft, trägst Du den Hut und schwingst Du den Stab, wirst Du der mächtigste Fähigkeitenzauberer der Blockfreien Staaten sein. Vieles wirst Du revolutionieren können, solange es mit den Ideen von Tito konform geht und in Übereinstimmung mit den Statuten des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens steht" Als Opa ein paar Tage später plötzlich an einem Herzinfarkt stirbt, will Aleksander den toten Opa lebendig machen und macht sich - als es nicht funktioniert - Vorwürfe, dass er die ganze Zauberkraft des Stabes für den Weltrekord von Carl Lewis am Tag vor Opas Tod aufgebraucht hat. - Das ist wirklich herzzerreißend! Aber auch mit Humoristischem wird bei der Beschreibung des Dorfes nicht gespart. In diesem Roman habe ich eine der groteskesten, geilsten Ehebruchszenen ever gefunden. Der Vater von Aleksanders bestem Freund (Spitzname Walross) kommt zu früh mit seinem Sohn heim, Mutter bläst indes dem Trafikanten einen und wird prompt in flagranti erwischt, Vati ist nur wütend, und wirft dem Trafikanten vor, ihn, der ihm sogar einen Kredit für sein Geschäft gewährt hat, schändlich betrogen zu haben. Er dreht aber völlig durch und packt die Puffn aus, als er merkt, dass der Trafikant beim Tetris seinen Highscore in seinem eigenen Haus auf den ersten 3 Plätzen geknackt und das Kapital von Karl Marx auf den Boden geschmissen hat. Vati schmeißt beide raus und spielt bis Mitternacht, um diese Schande zu tilgen. Als er damit fertig ist, stapft er mit dem Gewehr zur Wohnung des Trafikanten, zerschießt, als er niemanden mehr antrifft, alle Fenster, trägt sich auch dort im Tetris auf den ersten drei Plätzen ein, schmeißt alle Büche auf den Boden und kackt auf den Teppich. Das nenne ich mal eine gerechte Rache! Als der Bosnienkrieg ausbricht, dreht sich die heiter-groteske Stimmung des Romans in eine bedrohlich-groteske. Alles wird aus der Sicht des vertäumten Protagonisten kommentiert: das Grauen, die marodierende Soldateska, Tod, Flucht nach Deutschland, Verlorenheit und Sehnsucht, Integration, Frieden und Weigerung zurückzukehren zu diesen Mördern. Auf Seite 163 war ich dann erstmals nicht mehr richtig glücklich mit diesem Roman, denn ab diesem Punkt verlor er völlig seinen chronologischen Bezug und seine Verankerung - im Prinzip hat er sogar die Mitte verloren. Das begann, als der Autor ein Buch im Buch begann, also die Aufzeichnungen von Aleksander respektive seine Schreibversuche in die Geschichte einbaute. Was an und für sich in dieser Konstellation schon totaler Mumpitz ist, denn auch alles davor war aus der Sicht und mit der lyrischen Sprache des kleinen Jungen erzählt, die dürftigen Inhalte hätte man leicht davor logisch und chronologisch in den Hauptstrang einbauen können. Also nachdem Aleksander seinen Status als erwachsener und bestens integrierter Deutscher erreicht, beginnt die Geschichte in Fragmenten wieder von vorne, das Dorf vor dem Krieg - der Krieg - nach dem Krieg - und so weiter. Aber damit nicht genug, es werden weitere Schleifen eingezogen. Als die Schreibversuche des Protagonisten zu Ende sind, fährt der erwachsene Aleksander zurück nach Bosnien, um ein Mädchen zu suchen, das er in der ersten Kriegsnacht kennengelernt hat. In Bosnien angekommen gibt es wieder chronologische Schleifen und Rückblenden in das Dorf vor dem Krieg, in die Schicksale der Dorfbewohner während des Krieges und danach. Hier hat sich der Autor nicht mal mehr die Mühe gemacht, zu erklären, wer aus dem Dorf sich denn da tatsächlich in Rückblenden erinnert, es wird einfach unerklärt immer ohne Sinn und Verstand in den Zeiten vor- und zurückgesprungen. Versteht mich nicht falsch, was die stoboskopartigen Szenen der Vergangenheit und die weder chronologischen noch logisch konsistent eingebauten Fragmente zum Gesamtinhalt beitragen, kann nicht weggelassen werden, weil es so essentiell ist. Teilweise erschließt sich erst jetzt, wie in diesem bosnischen Dorf ehemalige Nachbarn sich plötzlich auf gegensätzlichen Seiten des Krieges befinden, wie sich dieser Hass und die lapidare Grausamkeit gegen die sehr guten Freunde einfach auf Grund von unterschiedlichen Ethnien aufbaut. Diese sehr wichtige Frage im Jugoslawienkrieg, wie man so plötzlich Ressentiments bis zum Hass auf Freunde entwickeln kann, beschreibt das Buch nämlich ziemlich genau zum Beispiel in einer sehr grotesken Szene, als sich zwei ehemalige Schulkollegen plötzlich auf unterschiedlichen Seiten des Schützengrabens befinden und sich im Rahmen eines Fußballspiels während des Waffenstillstandes begegnen. Diese unversöhnlichen Gräben, die nun genau beleuchtet werden, ziehen sich auch durch Aleksanders Familie, dessen Vater eine Muslima geheiratet hat, und der alleine schon deshalb seine ganzen Verwandten und das Land schleunigst verlassen musste. Trotz dieser Notwendigkeit der Rückblenden und näheren Erläuterungen hat der Aufbau der Geschichte einfach ziemlich plötzlich komplett den roten Faden verloren und ich als Leserin habe ausgerufen "Kann man das irgendwie ein bisschen ordnen bitte!" Sogar der Autor wird sehr ambivalent, denn seine Figuren empfehlen genau jene Chronologie beim Geschichtenerzählen, an die sich Sasa Stanisic in seinem Aufbau bedauerlicherweise nicht gehalten hat. Eine gute Geschichte ist wie unsere Drina: nie ein stilles Rinnsal, sie sickert nicht sie ist ungestüm und breit, Zuflüsse kommen hinzu [...]. Aber eines können weder die Drina noch die Geschichten: Für beide gibt es kein Zurück. Das Wasser kann nicht umkehren und ein anderes Bett wählen [...]. Fazit: Trotz des chrononlogischen Tohuwabhus, das die gesamte Geschichte aus der logisch-zeitlichen Verankerung gerissen hat, ziehe ich nur einen Stern ab, denn der Roman ist wirklich grandios erzählt und beleuchtet einen ganz wesentlichen Aspekt genauer, den ich schon immer wissen wollte, und der mir von anderen Autoren noch nie beleuchtet worden ist. Nämlich: Was zum Teufel mit den Menschen untereinander eigentlich im Bosnienkrieg und im Kossovo passiert ist, in dem eine fast 50 Jahre ineinander verwobene integrierte, friedlich zusammenlebende ethnische Gesellschaft einfach so derart implodieren konnte. Auf jeden Fall absolut lesenswert!

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