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Als ich nach Beendigung des Romans das Nachwort des Autors las und realisierte, wie er die Tonalität seiner Geschichte und deren Intention sah, war ich total überrascht und von der Rolle, denn ich hatte das Gefühl, ein komplett anderes Buch gelesen zu haben. Kurkov meint, er habe einen sehr europäischen Roman über junge Leute geschrieben, die „den Wegfall der Grenzen und die europäische Zusammengehörigkeit ernst nehmen.“ Das ist bei mir überhaupt nicht so angekommen. Im Prinzip geht es um drei junge Paare aus Litauen (Barbora und Andrius, Ingrida und Klaudjus, Vitas und Renata), die am Tag des Wegfalls der Schengen-Grenzen während eines Festes miteinander vereinbaren, sich ihren Traum von Europa zu erfüllen, mit dem Ziel, in die Ferne, in ihre Traumstädte London, Paris und Rom aufzubrechen, um genau dort ihr Glück zu versuchen und sich niederzulassen. Dabei gehen sie aber derart hirnlos vor, dass ich die ganze Zeit den Kopf schütteln musste. Keiner checkt vorab über das Internet die Lage, sucht sich in Jobportalen von Litauen aus schon eine qualifizierte Arbeit, sie lassen sich treiben, brauchen ihre Ersparnisse auf und taumeln von einem zufällig ergatterten Billiglohn-Gelegenheitsjob zum nächsten. Zwei Paare – und das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen – deren Traumdestinationen Paris und Rom sind, sprechen noch nicht mal ein Wort in der Sprache des Ziellandes, in dem sie sich dauerhaft niederlassen, leben und arbeiten wollen. Das ist irgendwie total verrückt und kann ja von vornherein nicht gut gehen. Irgendwie hatte ich als Leserin auch das Gefühl, der Autor vermittelt uns unterschwellig, dass Europa diesen Paaren, die sich derart respektlos ihren Zielländern gegenüber verhalten, etwas schuldig sein soll. Zum Beispiel gerade in Paris angekommen, dem Bus entstiegen, entspinnt sich folgender Dialog: Der Barkeeper antwortete in einem langen unverständlichen Satz. Andrius und Barbora tauschten Blicke. „Was hat er gesagt, was glaubst Du?“ fragte die junge Frau. „Dass ich eine wundervolle Begleiterin habe, nehme ich an“. „Nein, er hat doch zu mir gesprochen“, widersprach Barbora. „Also, wir müssen Französisch lernen! Warum haben wir das eigentlich nicht gemacht?“ „Weil wir keine Zeit hatten.“ Andrius nahm einen Schluck Espresso.“Und wenn wir welche hatten, haben wir lieber geschmust, als Französisch gelernt …“ „Na, dann lernen wir jetzt Französisch. Das Schmusen kann warten …“ “ Wieso denn das?“ Andrius tat entrüstet. Gerade meine Generation kann so eine Situation wie hier im Roman in Litauen beschrieben, sehr gut nachvollziehen, denn als wir ungefähr im Alter der Protagonisten waren, gingen auch für uns schon vor dem Beitritt Österreichs zur EU (durch Gegenseitigkeitsabkommen) in den 90er-Jahren unvermittelt die Grenzen auf – das war wie im Schlaraffenland. Was vorher extrem bürokratisch und schwierig – fast schon unrealistisch war, war plötzlich ganz einfach möglich, nämlich arbeiten in Deutschland, in Italien, am Meer, studieren durch Finanzierung mit Au-pair oder Jobben in allen großartigen Städten der EU. Einige wollten das Meer sehen, einige viel Geld verdienen, manche hatten als Zieldestination die Stadt der Liebe, Paris. Aber keiner war so unvorbereitet wie diese Protagonisten, jeder paukte wie verrückt Französisch, Italienisch, Spanisch oder Griechisch, Englisch war ja nicht notwendig, denn das konnten wir und durchsuchte die lokalen Zeitungen vorab schon nach Jobs und bewarb sich. Dabei hatten wir damals nicht so einfach Zugang zum Internet wie heute und waren trotzdem weitaus besser gerüstet für das Leben in fernen Ländern. In keiner Situation des im ganzen mehr als 600 Seiten dauernden extrem langen Romans wird ob dieser Blauäugigkeit und des mangelnden Realitätssinns irgendwann mal ein Funken Selbstkritik der Figuren oder eine kritische Darstellung des Autors vermittelt, im Gegenteil, die im selbstgewählten Exil im Ausland „Gestrandeten“, hadern und lamentieren permanent herum. Schlimmer ist zudem noch, dass Renata und Vitas, jenes Paar mit Ziel Rom, das durch die notwendige Versorgung von Renatas Großvaters an der Auswanderung gehindert wurde, offensichtlich als Einzige mit Hirn und Verstand die Segnungen des Internets einzusetzen vermag, und damit in Litauen erfolgreich ist. Was soll das nun? Was ist die Moral von der Geschicht?: Renn mutig aber kopflos wie ein Hendl gegen Westen und werde unglücklich oder bleib zu Hause trau Dich nix, dann bist Du erfolgreich und froh?- Das ist so BÄÄÄHHH (sorry für das Wort, aber dieselben fehlen mir gerade). Zudem begeht Kurkov mit seiner Geschichte – zumindest für meine Begriffe – eine unverzeihliche Todsünde, nämlich sie hat mich über weite Strecken extrem gelangweilt. Zwei Paare wandern also ziemlich friktionsfrei aus …. und dann passiert 200 Seiten gar nix: Ein paar Gelegenheitsjobs und ein alter Hund ist gestorben, ansonsten nichts als Banalitäten … und dann passiert bis Seite 500 wieder fast gar nichts. Der Roman hat das Tempo einer Schnecke, in super-super-slow-motion vegetiert der Plot dahin. Ich wünschte mir die ganze Zeit, dass einer der Figuren mal was richtig Furchtbares zustößt, damit endlich Schwung in die Story kommt. Ich brauche ja nicht immer Drama, aber das ist mir wirklich zu wenig Action. Wenn mein Leben in jungen Jahren so gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich vor Langeweile schon längst gestorben. Ab Seite 500 – das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen – kommt die Handlung dann endlich richtig in Schwung, aber da habe ich schon irgendwie die Lust an den Figuren und ihren Schicksalen verloren. Fazit: Viel zu langer, gähnend langweiliger, inhaltsloser, larmoyanter Roman, in dem ich die Botschaft des Autors einfach nicht vernommen habe. Eines muss man Kurkov aber lassen, auch wenn er sich in Banalitäten ergeht, diese kann er sehr gut und mit ausgezeichneter Sprache transportieren.