elena_liest
Etan Grien gönnt sich an einem Abend nach einer langen Schicht im Krankenhaus (er ist Neurochirurg) eine kleine Spritztour mit seinem Jeep durch die Wüste. Auf einmal kracht es. Er hat einen Menschen überfahren - einen Farbigen, einen Eritreer. Etan Grien stellt sich nun die Frage: Wegfahren oder bleiben? Sterben wird der Mann sowieso. Also warum das eigene, geordnete Leben auf den Kopf stellen, warum den so wichtigen Beruf aufs Spiel setzen? Ist er nicht wichtiger, als dieser Mensch, diese Randgestalt der Gesellschaft, die dem Tod ohnehin nicht mehr entrinnen kann? Und er fährt weg - und die Geschichte nimmt ihren Lauf. Ayelet Gundar-Goshen hat mich mit "Löwen wecken" in ein völlig neues Buch-Setting entführt. Ich habe noch nie einen Roman gelesen, der in Israel spielt und umso interessanter war es für mich, in diese fremde "Welt" einzutauchen. Doch was in Israel herrscht, ist auch im Rest der Welt zu finden: Rassismus und eine Gesellschaft, die Menschen immer noch in Klassen einteilt. Die Autorin nimmt den/die LeserIn mit in eine doch recht rasante Geschichte, die sich mit Moral, Nächstenliebe und der Würde des Menschen auseinander setzt. Dabei erhebt sie nicht den Zeigefinger, sondern lässt den/die LeserIn sich selbst mit diesen Themen auseinander setzen. Der Roman wird aus der Perspektive von drei Protagonisten und Protagonistinnen erzählt: Etan (Arzt und Täter), Liat (Ehefrau des Täters und Polizistin) und Sirkit (Ehefrau des Opfers, Eritreerin, ergo eine der "Randgestalten"). Der/die Lesende wird mit dem Gefühlsleben der drei Personen konfrontiert, mit den Fragen, die sie sich selbst stellen und den Lügen, die sie verbergen. Durch Liat wird auch noch der Aspekt der Diskriminierung von Frauen mit in das Buch eingebracht, was es noch einmal vielschichtiger macht. Während dem Lesen verschwimmen oft die Grenzen zwischen Opfer und Täter, was mir sehr gut gefallen hat. Auch das recht offene Ende fand ich super. Leider gab es zwischendurch für meinen Geschmack ein paar Längen zu viel. Man bekommt einen wirklich sehr ausschweifenden und exakten Einblick in das Seelenleben und die Vergangenheit der Protagonisten und Protagonistinnen, was für mich manchmal etwas zu viel des Guten war. Wem das nichts ausmacht, erhält hier aber ein wirklich außergewöhnliches Buch. Ich vergebe 4 / 5 Sternen.