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awogfli

Posted on 29.4.2020

Verena Stauffer hat mit ihrem Erstling ein sehr beachtliches Romandebut hingelegt. Die Geschichte ist sowohl sprachlich, stilistisch vom Plot her als auch durch die Vielzahl der angesprochenen und eingearbeiteten Thematiken sehr vielfältig und anspruchsvoll. Der erste Teil der Story spielt in Madagaskar und hat im Sinne des magischen Realismus stilistisch ein bisschen etwas von Gabriel Garcia Marquez’s Macondo: wundervolle Beschreibung des Dschungels der Insel, der Orchideen, der Farbenpracht, der Düfte, der zwei europäischen Botaniker, die das Umfeld erforschen, der Einheimischen und des neugewonnenen Guides und Freundes Isaak aus Mozambique. Der Protagonist und Botaniker Anselm ist nicht nur Pflanzenforscher, sondern muss sich auch intensiv mit den indigenen Völkern auf seinen Reisen beschäftigen, denn sonst ist man Mitte des 19. Jahrhunderts bei Forschungen rund um die Welt schneller gestorben, als man Orchidee sagen kann. Die Rückfahrt von der Expedition mit dem Schiff zählt auch noch zu diesem magischen Abschnitt, denn dem im Fieberwahn befindlichen Anselm wächst eine Orchidee aus seiner Schulter. Der zweite Teil in Europa bringt dann den Leser sehr unsanft auf den Boden der Realität zurück. Die Orchidee verschwindet nicht von Anselms Schulter und dieser findet sich auf Grund einer wahnhaften Persönlichkeitsstörung in einer Irrenanstalt wieder. Der Alltag, die triste Stimmung, die Entbehrungen und die sehr menschenverachtenden Therapien, die geistig kranken Menschen dieser Zeit angetan wurden, beschreibt die Autorin grandios. Dennoch gibt es wieder einen Funken Magie und Hoffnung, denn Anselm verguckt sich in den letzten Tagen seines Klinikaufenthalts in die Insassin Lilia, die einer Blume ähnelt. Im dritten Abschnitt wird Anselm – als er vollständig geheilt ist – auf Grund der Protektion seines Vaters als Lektor für Botanik an der Universität aufgenommen. Erst jetzt offenbart sich der wahre Charakter des Protagonisten. Anselm lebt tatsächlich mit dem Kopf in den Wolken bzw. im Elfenbeinturm, ist eitel, präpotent und im Rahmen seiner Forschung nicht nur rücksichtslos gegen sich selbst und seine Gesundheit, sondern auch gegen seine Umwelt. Er lehnt sowohl alle politischen Umbrüche im Land als auch Darwins neue Theorien ab, aber nicht so sehr, weil sie Gott lästern oder sich schon als falsch herausgestellt hätten, sondern weil er prinzipiell gegen Veränderung ist. Er entpuppt sich als ein überheblicher manisch rechthaberischer Wissenschaftler, der auf Grund von Angst vor Veränderung nie neue Theorien in Betracht zieht bzw. sie überprüft– sondern nur einsam dagegen polemisiert, sich aus Feigheit und Überheblichkeit nicht mal einem ehrlichen wissenschaftlichen Disput stellt – eine sehr schlechte und ungeeignete Kombination in der Welt der universitären Wissenschaft, sowohl in der Forschung als auch in der Lehre. "Sobald er [Darwin] dann einmal nach England käme, würden sie sich gegenüberstehen und der gute Charles müsste ihm ins Gesicht sagen, dass der Mensch nicht von Gott erschaffen sei, sondern von anderen Tieren abstamme, von welchen, das wollte sich Anselm gar nicht ausmalen. Er sah sich selbst in England einen großen Vortrag halten, in welchem er bewies, dass dem nicht so sein konnte. Er brauchte also einen Gottesbeweis." Am Ende dieses Teils rast er, verursacht durch eine kleine Intrige wieder los, lässt alle, sowohl die Wissenschaft, die Kollegen, die Studenten, seinen wohlmeinenden Freund Lendi und seine Eltern im Stich und begibt sich erneut nach China auf die Jagd nach einer neuen Orchidee – nach einem Phantom. Der letzte Teil wiederum schließt den Kreis sowohl stilistisch als auch vom Inhalt. Wundervoll beschrieben entdeckt Anselm durch seine rücksichtslose Hartnäckigkeit und etwas Glück zufällig entgegen aller Wahrscheinlichkeiten im magischen China eine neue blaue Orchidee, was natürlich wieder Konsequenzen nach sich zieht. Das Ende ist wieder mal etwas offen und zeigt dem Leser nicht ganz klar, ob und ab wann sich die Geschichte um wahnhafte Imagination dreht, oder vielleicht doch wirklich wahr sein könnte – alles ist möglich im magischen Realismus. Irgendwie ist es die Geschichte eines großen leidenschaftlichen Forschers, der auf Grund grundsätzlicher wissenschaftlicher Charakterschwächen z.B. fehlender Kritikfähigkeit, Zweifel an eigenen Positionen und Theorien, Realitätssinn etc. ganz episch gescheitert ist. Auch weil er ex post betrachtet einfach fundamental unrecht hat und sich trotzdem nicht beirren lässt. Fazit: Ein sehr guter Erstlingsroman, sprachlich wundervoll, vom Plot her gut gearbeitet, inhaltlich sehr spannend mit einem magisch realistischen Touch und einem offenen Ende. Eigentlich eher 4,5 Sterne, aber bei der Höchstnote bin ich ein bisschen knausriger, wegen meiner Tendenz zur Mitte.

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