awogfli
Die Chronik der Familie Kign aus Weißrussland ist zwar vom Plot her nicht besonders außergewöhlich innovativ konzipiert, sondern eine ganz normale Familienbiografie, und auch die Sprachfabulierkunst hat mich nicht unbedingt vom Hocker gerissen, dennoch ist sie einzigartig und empfehlenswert, da sie ziemlich genial in historische Ereignisse vor allem zur Zeit der russischen Revolution eingebettet ist und so en passant ein paar historische Details enthüllt, die wir in der Schule mehr oder weniger schon gelernt, aber nie so betrachtet haben. Die Story aus Weißrussland beginnt in Österreich und rollt die Familienchronik über mehrere Generationen in Rückblenden auf. Die Kigns, väterlicherseits ein bisschen deutschstämmig, zählen zum russischen Landadel, sind aber wesentlich bodenständiger als Dostojewskis nutzlos philosophierende, hedonistische, ohne Geld kaum lebensfähige und mit dem Schicksal hadernde todunglückliche Figuren. Sie arbeiten und organisieren die Landgüter, kümmern sich recht fair um die freien Bauern und Angestellten, leben, lieben und leiden wie andere auch, aber nicht so dramatisch und mäandernde Sprache absondernd wie beim Altmeister der russischen Dichtung. Die Kigns sind fleißig, arbeiten selbst, machen sich die Hände schmutzig, haben unternehmerisches und politisches Talent und sind geerdet. Sie sind gegen den Autokratismus des neuen Zaren Nikolaus eingestellt, für die parlamentarische Monarchie und treiben die lokale Selbstverwaltung der Bauern im Rahmen von Semstwos voran. Der jüngere Sohn Alexej mit dem unternehmerischen Händchen und dem Talent für Lokalpolitik übernimmt den Bauernhof, Vladimir sein älterer Bruder ist als Journalist, Dichter, Richter und Revisor tätig. Mit 19 Jahren muss Alexejs Sohn Dimitri das Gut und die Unternehmen übernehmen, da sein Vater bei einem Unfall stirbt. Dann kommen dem gemächlichen Fluss der Familiengeschichte zuerst der erste Weltkrieg und anschließend die Russische Revolution in die Quere. Sehr klar werden die wirklichen Motive Lenins und der gewaltbereiten Kader der Bolschewiken dargelegt, die nur auf Zerstörung aus waren. Selbst der ursprüngliche Sympathisant Gorki musste letztendlich erkennen: "Russland bedeutete dem „Weltverbesserer“ Lenin nichts, es war bloß ein Experimentierfeld für seine geplante Weltrevolution. Und: Für diese Utopie opfern die Bolschewiki das ganze Land. Mit tausenden von Leben und Strömen von Blut muss das Volk für deren Verbrechen bezahlen." Dies ging sogar so weit, dass die Bolschewiki unbedingt eine Situation von Armut, Hunger und Verwirrung stiften mussten. Sie nahmen den Bauern nicht nur alle Lebensmittel ab, sondern auch das Saatgut, brannten die Häuser nieder, plünderten und verwüsteten die Felder, um eine Hungerkatastrophe zu provozieren. Da verwundert es nicht, dass die Feinde, Österreicher und Deutsche, die auch zwischenzeitlich in Weißrussland einmarschierten, aber an der Effizienz der Landwirtschaft als Kornlieferant interessiert waren, wie Freunde empfangen wurden, da sie die ansässige Bevölkerung von Gräueltaten verschonten. "Es ist schrecklich und eine Schande, dass wir unsere Feinde wie Befreier erwarten." So schlägt sich die Familie durch die Wirren der Revolution, wird von Schicksalschlägen heimgesucht, versucht mit Mut, Verhandlungsgeschick, Klugheit, Sturheit zu überleben und irgendwie zusammenzubleiben (oft auch vergeblich) und die Überlebenskünstler unter ihnen wandern von 1924 – 1926 allmählich nach Österreich aus. Ursula Cerha hat für dieses Buch genaue Recherchen in den Archiven von St. Petersburg und Minsk unternommen, die historischen Ereignisse, sowohl die großen politischen Umbrüche, als auch die kleinen lokalpolitischen Fakten sind also in keinster Weise fiktiv. Schade ist eigentlich, dass die Familienchronik mit den ausgewanderten Schwestern endet und keinen Bezug bis in die Gegenwart zur Autorin und ihrer Familie mütterlicherseits herstellt (dies erfährt der Leser nur aus dem Klappentext). Da bleibt dann eine Lücke, quasi ein schwarzes Loch im Familienstammbaum. Es ist, als würde sich die Autorin als Erzählerin von ihrer eigenen Vergangenheit distanzieren, sie versucht sich fälschlich, als anonyme unbeteiligte Beobachterin zu installieren, indem sie alle Verbindungen kappt. Hier fehlt mir persönlich einfach der wesentliche Bezug. Leider muss ich auch das Lektorat des Verlages kritisieren. Ich suche nicht wirklich nach Fehlern, und Ihr mögt mich vielleicht für einen orthografiezwangsgestörten Monk halten, aber mehr als zwei Fehler, die mir ins Auge springen, sind einfach zu viel. Umbruchfehler die am Satzanfang ein Wort stehenlassen, Wörter mit fehlenden Buchstaben am Satzanfang … da verlange ich in einer popeligen Masterthese mit der Auflage von 5 Stück mehr Genauigkeit, als der Verlag an den Tag legt. Fazit: Lesenswert! Eine gute solide Familiengeschichte mit großartigen historischen Bezügen zu einem Land und einer Revolution, von der zumindest ich noch nicht so viele Details gehört habe.