awogfli
Ich bin mittlerweile zu einem richtigen Fan von Amélie Nothomb mutiert, seitdem ich sie ungefähr vor zwei Jahren im Rahmen meiner Autorinnenchallenge entdeckt habe und schätze vor allem ihre relativ kurzen, knackigen und spannenden Psychogramme, die meist sehr treffend und punktgenau menschliches Wesen verschiedenster Art sezieren. Auch in ihrem aktuellen Roman spielt Nothomb erneut ihre Stärken aus. Diesmal liegen toxische Mutter-Tochter-Beziehungen auf dem Tisch ihrer literarischen Pathologie und sie legt – obwohl der Roman wieder recht kurz und dünn geraten ist – wahrhaft komplex und pointiert sehr umfassend die wesentlichen Eckpunkte zu diesem Thema dar. Die Geschichte beginnt mit der narzisstischen Marie, die sich bereits in der Schule den Mädchenschwarm und reichen Apothekerssohn Olivier schnappt und sehr früh ihr erstes Kind bekommt. Ihre erste Tochter Diane wird von Marie Zeit ihres Lebens völlig ignoriert und vernachlässigt. Als junge Mutter ist sie zuerst auf die Aufmerksamkeit eifersüchtig, die das Kind von ihr abzieht. Nach der Geburt von Dianes Bruder kann sie ihr zweites Kind annehmen, ihre darauf folgende Tochter Célia liebt sie innig und verzärtelt sie total, was auch wieder pathologische Züge annimmt. Was Nothomb hier meisterlich konstruiert, ist ein Leben voller Abwertung, Ablehnung, Demütigung und Gleichgültigkeit von Marie in Bezug auf Diane und eine komplett ungesunde Vereinnahmung ihrer zweiten Tochter Célia. Dabei ist Marie nicht wirklich bösartig, sondern nur narzisstisch gedankenlos und unreflektiert, sie ist sogar derart in ihren Rechtfertigungskonstrukten gefangen, dass sie Täter-Opfer-Umkehr betreibt und die Ablehnung seitens ihrer Tochter Diane verortet, die diese angeblich schon als Baby an den Tag gelegt hatte. Der Vater Olivier hat seine Frau auf ein Podest gehoben und stellt deren Erziehungsmethoden nie in Frage, im Gegenteil, er ist in jedem völlig gerechtfertigten Konflikt auf der Seite seiner Ehefrau und somit gegen die Tochter. Nur die Großeltern haben die Situation gecheckt und kümmern sich als Bezugspersonen um Diane, was zur Folge hat, dass das Mädchen bereits in ganz jungen Jahren komplett mit ihrer Familie bricht und nur noch bei den Großeltern lebt. Da diese als Bezugspersonen ihre Arbeit sehr gut machen und ihr endlich die Liebe und Anerkennung zollen, die ein Kind benötigt, wird aus Diane trotz ihrer Traumata eine sehr erfolgreiche Erwachsene. Durch die Verletzungen der Kindheit und die anschließende Heilung kann Diane über sich selbst hinauswachsen, und als Ärztin hilft und heilt sie auch andere. Leider sucht sie als Erwachsene die Freundschaft der Wissenschaftlerin Olivia, die ihrer Mutter bedauerlicherweise sehr ähnelt, ihre Tochter vernachlässigt, herabsetzt und ablehnt und andere Leute manipuliert und ausnutzt. Diane versucht für das arme Mädchen Mariel genauso eine starke Bezugsperson zu sein, wie es ihre Großeltern für sie waren. Doch Olivia ist weitaus bösartiger zu ihrer Tochter, als Dianes eigene Mutter es jemals war. Nach einem mittleren Konflikt, der sich eigentlich unter guten Freunden hätte ausräumen lassen können, weil Diane sich nicht mehr ausnutzen lässt und ihre eigene berufliche Laufbahn verfolgt, benutzt Olivia die Beziehung zwischen Diane und ihrer Tochter Mariel als Druckmittel und kappt diese aus Bosheit komplett. Das arme Mädchen hat schlussendlich überhaupt keine Bezugsperson mehr, weder Großeltern noch den Vater, der wahrscheinlich am Asperger-Syndrom leidet, um etwas menschliche Wärme zu bekommen. Dass diese Biografie im Endeffekt völlig schief geht und das Mädchen emotional total zerstört ist, versteht sich von selbst. Was mir am meisten gefallen hat, sind die pädagogischen und psychologischen Grundaussagen, auf denen dieser Roman basiert. Wenn in einer toxischen Mutter-Tochter-Beziehung irgendeine – auch eine völlig fremde Bezugsperson – einspringt, kann sich das Kind dennoch zu einem psychisch gesunden Menschen entwickeln – wenn auch mit ein paar Verletzungen und Traumata, die sogar als Katalysator für eine außergewöhnliche Persönlichkeit dienen können. Was mich ein bisschen irritiert hat, ist der Umstand, dass Diane als Kleinkind schon in frühen Jahren quasi fast ab zwei Jahren so viel Erkenntnis und Bewusstsein hat, dass sie fast wie eine erwachsene Therapeutin über ihre Beziehung zur Mutter philosophiert und die Situation analysiert. Ihr werden Gefühle zugeschrieben, die sie in dem Alter einfach auf Grund der Entwicklung noch nicht haben kann. Das ist einerseits sehr gruselig, aber andererseits sogar total grotesk, weil es eben so wenig authentisch ist. Fazit: Ein als Lebensgeschichte verpacktes, ausgezeichnetes Psychogramm, das ich auf jeden Fall wärmstens empfehlen kann. Liest sich auch als Pageturner quasi in einem Rutsch durch.