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awogfli

Posted on 24.3.2020

Wer mich ein bisschen kennt, weiß, dass ich mit sehr dekonstruierten Texten, die wild zwischen Zeiten und Inhalten hin und herspringen und ungewöhnlichen stilistischen Sprachexperimenten im Medium Roman meist so gut wie gar nichts anfangen kann. Für mich persönlich ist das Medium Buch, insbesondere das Genre des Romans, ein sequentielles, was sich aus den medientypischen Eigenschaften ergibt. Für sprachliche Experimente gibt es die Lyrik für strukturelle Hypertext-Werke. Und was mich am meisten irritiert, sind immer jene Texte, die die Form komplett vor den Inhalt stellen – quasi überhaupt keine Geschichte erzählen, sondern nur Sprachspielereien bzw. optische oder stilistisch strukturelle Sperenzchen präsentieren. Diese haben meiner Meinung nach wenig im Genre des Romans verloren. Ok, über meine Einstellung kann man Nächte füllend diskutieren, ich bin eben eine literarische Realistin, die das Erzählen von Geschichten in den Vordergrund der Literatur stellt. Warum ich nun aber meine Position so ausführlich dargelegt habe, liegt daran, dass In den kommenden Nächten gegen all meine persönlich aufgestellten Regeln verstößt, fast alle meine Animositäten zu bedienen scheint und mir dennoch richtig gut gefallen hat. Ich bin irgendwie sehr erstaunt über diesen Umstand. Der ungewöhnliche, sehr plakative, optisch ansprechende, sprunghafte Schreib- und Präsentationsstil mit den kurzen Schlaglichtern aus naher Vergangenheit, lang zurück liegender Vergangenheit und Gegenwart kunterbunt und wild gemischt ist diesmal nicht ausschließlich dazu da, Verwirrung zu stiften, sondern stellt stilistisch konsistent den Widerstand, Prozess und die Abwägung aller Optionen für eine lebensverändernde Entscheidung der Protagonistin dar. Insofern unterstützt die Form punktgenau den Inhalt der karthartischen Entwicklung der Hauptfigur, und das mochte ich sehr. Sogar die im Drucksatz eingestreuten Auszeichnungen, wie nur eine Zeile pro Seite, oder die optisch ungewöhnlichen, vollseitigen, liebevoll gestalteten Kapitelüberschriften passten irgendwie ganz treffend zu der Geschichte. Ach ja die Geschichte … jetzt habe ich doch glatt fast vergessen, Euch zuerst die Geschichte zu erzählen. Also die Protagonistin Doro Grimm war irgendwie sehr unglücklich in ihrem gar so „perfekten“ Leben, sie langweilte sich zu Tode in ihrer Ehe, war ausgebrannt und litt – woran genau erschließt sich erst nach und nach der LeserIn – ganz schrecklich. Eines Tages gibt sie sich einen Ruck und verlässt ihren Mann Elmar. Zuerst will sie dies auch wortlos ohne Erklärungen tun, gibt aber dann doch ihren moralischen Skrupeln nach und versucht, sich zu erklären. Da die Ehe auf einem Berg voller falscher Rücksichtnahme und Missverständnissen aufgebaut und Doro schon lange vorher und eben in dieser Situation auch aus Schuldgefühl in einer Sprachlosigkeit gefangen ist, misslingt die Trennungsaktion gehörig. Elmar versteht in ihrem Gestotter als Trennungsgrund Doros Weltreise. Dabei wollte Doro ihm nur mitteilen, dass sie von einer Weltreisenden die Wohnung in der benachbarten Stadt für ein halbes Jahr übernommen hat. So ist Doro, genauso wie sie es sich erträumt hat, erstmals alleine in ihrem auf sechs Monate gemieteten Heim und auch erstmals auf sich selbst gestellt. Sie hat endlich Zeit, sich selbst zu finden, weil sie sich in der Aufopferung für ihren Mann und ihren Beruf (respektive ihren Chef) schon seit langem verloren hat. Und dieser lang ersehnte Aufbruch, diese einmalige Chance verpufft anfänglich total. Auch wenn Doro davongelaufen ist und wie ein Reptil ihr altes Leben abstreifen wollte, vor ihrem eigenen Selbst und vor ihren Problemen kann sie einfach nicht davonlaufen und entkommen, jeder nimmt diese mit einem Rucksack überall hin mit. Sie geht aus ihrem neuen Heim, das sich nach und nach in der vor Hitze flirrenden Stadt zum selbst gewählten Gefängnis entwickelt, nicht hinaus, sondern bleibt grübelnd in totaler Isolation gefangen. Doch eben diese von anderen Menschen abgekoppelte Isolation zwingt Doro, ihr Leben in Rückblenden aufzurollen, ihre Probleme zu analysieren und nach einer gehörigen Depression letztendlich doch ein bisschen zu sich selbst zu finden. Das Ende nach einer langen qualvollen, kathartischen Entwicklung ist grandios, sehr kurz, knapp und nur für eine Seite schmerzvoll. Als ihr Ehemann schlussendlich gleich einem Ritter auf dem weißen Pferd angetrappelt kommt, um sie wieder mal effektheischend zu retten, gibt sie ihm einen Korb, denn sie ist das Gegenteil einer holden Maid, die vom Märchenprinzen gerettet werden muss. Sie ist eine Frau, die das selbst hinbekommen kann, oder eben auch nicht, aber das liegt alleine in ihrer Verantwortung. Fazit: Wenn sogar ich mit so einem experimentellen Buch zurechtkomme, heißt das etwas. Der Inhalt dieses Entwicklungsromans hat sich mir tatsächlich erschlossen, die Geschichte hat mich berührt, gepackt und ich fand sie richtig gut, deshalb gibt es von mir auf jeden Fall eine Leseempfehlung.

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