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awogfli

Posted on 24.3.2020

Der Krieg als Vater aller Dinge produziert verwahrloste, verlorene Kinder Dieses beachtliche Roman Debüt von Lucia Leidenfrost erinnert vom Setting und von den moralischen Implikationen her an den Roman Der Herr der Fliegen, wurde aber ein bisschen entstaubt, modernisiert, uns von der Kultur her näher gerückt und auch geografisch an unsere Breitengrade angepasst. In einem verlassenen Dorf sind fast alle Erwachsenen infolge eines Krieges weggezogen, nur die Kinder und ein paar der Großeltern bleiben übrig. Die Kids haben sich zu einer Gang zusammengerottet und autonom irgendwelche völlig neuen Regeln etabliert, die zu Beginn nur sehr kindlich grausam, aber doch recht harmlos anmuten. Die Ausgangssituation erinnert mich ein bisschen an die Dörfer am Land in Bosnien und im Kosovo während des Jugoslawienkrieges, damals, als mein Lieblingsonkel, der bei den KFOR-Truppen angestellt war und die Aufgabe hatte, die Infrastruktur wie Krankenhäuser, Wasserversorgung und Schulen wiederaufzubauen, mir von seinem Alltag und seiner Arbeit erzählte. Nach und nach mit fortschreitender Handlung kann die Leser*in in dieser Geschichte nicht mehr punktgenau festmachen, was wirklich los ist, aus der Sicht der Außenseiterin Mila gibt es vage Andeutungen, dass hier etwas am Eskalieren ist. Auf jeden Fall steigert sich die Bedrohlichkeit der Situation Schritt für Schritt, wie so ein wabernder Ton in einem Thriller von Zeile zu Zeile – das ist dramaturgisch ganz großes Kino. „Wie kann man nur so sein“, will Mila rufen. Stattdessen starrt sie die kleinen Kinder an, deren Gesichter anschwellen. „Roh werden wir aus Langeweile“, flüstert Mila.“ Dann liegen das Drama und der Sündenfall auf dem Tisch: diese Langeweile, dieser Mangel an Beschäftigung, diese Verwahrlosung steigert die Grausamkeit der Kindergang enorm, die älteren Teenager quälen die Kleinen, die Gang verletzt und nötigt die Außenseiterin Mila, die nicht mitmachen will, sexuell, brandmarkt sie nachhaltig und vergreift sich sogar an den Großeltern und Erwachsenen, indem sie sie tötet. Die Situation eskaliert total, indem die ganz kleinen Kinder nun auch noch den Fleischhauer irrtümlich oder auch nur aus Neugierde erschossen haben. Die Spirale der Gewalt ist nicht mehr aufzuhalten. Demgegenüber steht das kooperative konstruktive Konzept von Mila, die ihre Geschwister trotz all der Anfeindungen und Übergriffe versorgt und sich selbst in der abgesperrten Schule mit anderen Dingen als Gewaltspielen beschäftigt. Spannend ist stilistisch auch der Einsatz von unterschiedlichen Blickwinkeln, aus denen der Plot erzählt wird. Da gibt es zuerst das WIR des Kinderkollektivs, das sehr viele neue grausame Regeln aufstellt, schlimme Taten begeht und diese auch aus einer kindlichen Sicht rechtfertigt. Dann gibt es auch die Position von Mila, die die Gewalteskalation der Kinder von außen betrachtet, selbst nur kooperative Gedanken hat und Handlungen setzt, natürlich nicht, ohne sich selbst zu schützen. Und dann gibt es auch noch die Sicht der einzelnen Erwachsenen, die die Situation eigentlich gut gemeint haben, ihre Kinder nur schützen wollten, aber somit die Eskalation durch die Verwahrlosung vorangetrieben haben. Zuerst sind die Eltern in die Stadt und in den Krieg gezogen, weil die Großeltern noch da waren, dann sind die Großeltern einberufen worden und haben bezüglich Versorgung nichts unternommen, um die Kinder vor einer Wehrpflicht zu schützen, in der Hoffnung, dass der Staat die Kinder auf dem Land total vergisst. Leider sind solche gut gemeinten Verhaltensweisen nicht zwangsläufig gut. Die Kinder fühlen sich zuerst im Stich gelassen, dann ungeliebt und flippen anschließend als Folge dieser falschen Rücksichtnahme total aus. Fragt mich nicht, was konkret, aber am Ende hat mich plottechnisch irgendetwas gestört, ich kann es aber nicht genau festmachen, was es war, denn ein kleiner Showdown findet durchaus statt. Aber mir war das Finale einfach ein bisschen zu unbestimmt und etwas zu offen für unterschiedliche Interpretationen. Möchte aber darauf hinweisen, dass dies wieder mal Nörgelei von mir auf allerhöchstem Niveau ist, irgendwie bin ich da immer ein bisschen zu monkhaft, wenn noch Fäden der Geschichte lose sind. Fazit: Absolute Leseempfehlung. Diese Geschichte ist spannend, subtil gruselig, lapidar grausam und sprachlich sehr ansprechend. Die Handlung ist zwar ein bisschen dystopisch fiktional, aber dennoch so authentisch nahe einer tatsächlichen Wahrscheinlichkeit, dass sie Gänsehaut verursacht – sehr grandios!

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