morningside
Der 16jährige Linus wird auf der Straße entführt und in eine menschenleere "Wohnung" gebracht, bei der es sich vermutlich um einen unterirdischen Bunker handelt. Sie ist spartanisch eingerichtet und ausgestattet mit Gegenständen, die man weder als Waffe noch als Arbeitsgerät einsetzen kann. In den Folgetagen kommen mit einem Aufzug weitere entführte Menschen dazu, bis die 6 Zimmer bewohnt sind. Dieses Buch habe ich mit sehr gemischten Gefühlen gelesen. Einerseits ist die Lage dermaßen aussichtslos, dass mir schon früh schwante, dass das nicht gut enden kann. Die Stimmung ist so bedrückend, dass es mir eigentlich widerstrebte weiterzulesen. Andererseits wollte ich unbedingt wissen, wie und wann die Lage sich zuspitzt, ob es irgendeinen Ausweg geben kann aus dieser trotstlosen Situation. Die letzten 50 Seiten konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen, weil ich es unbedingt fertig lesen wollte. Mit der grausamen Vorahnung, dass es im Grunde aussichtslos für die Beteiligten ist. Der Schreibstil ist - obwohl es sich um vermeintliche Tagebuchaufzeichnungen eines 16jährigen handelt - irgendwie distanziert geschrieben und recht knapp in den Formulierungen. Und irgendwie war ich recht froh darüber. Es ermöglichte mir, es aus der Distanz zu lesen und nicht allzu tief in das Geschehen einzutauchen. Dafür bin ich wirklich dankbar, denn es hätte mir sonst sicher Albträume beschert. Die Atmosphäre ist ähnlich wie das Cover, das ich für absolut treffend halte: dunkel und farblos, Grautöne ohne einen Lichtschimmer. Manchmal wundere ich mich, was heute alles als Jugendbuch verkauft wird. Ich hätte das als Jugendliche nicht lesen wollen! Aber heute scheinen Jugendliche wesentlich härter und abgestumpfter zu sein, was das Thema Gewalt angeht. Fest steht, dass dieses Buch einen tiefen Eindruck hinterlässt! Man beendet es und trotzdem kommt man gedanklich immer wieder an gewisse Stellen des Buches zurück, die einen besonders beeindruckt oder erschreckt haben. Sicher ein Buch, das die Leserschaft spaltet. **Spoiler:** Bis zum Ende wird nicht klar, wer der Kidnapper ist und was er überhaupt damit bezweckt hat. Das ist einerseits schade, andererseits geht es dem Schreiber m.E. überhaupt nicht um den Täter, sondern lediglich um die Opfer und wie sie sich in dieser Extremsituation wandeln und verhalten. Im Grunde wirkt die ganze Geschichte wie ein Experiment - nur dass dieses Mal Menschen statt Laborratten dafür verwendet werden. Erschreckend für mich die Wandlung von Linus, der zuerst mit viel Phantasie und Forschergeist an die Situation heran geht, dann auch bereit ist sich aufzulehnen und verschiedene Fluchtmöglichkeiten andenkt und z. T. auch ausprobiert. Zuerst noch mit den anderen, später auch skrupellos ohne Wissen der anderen, obwohl er weiß, dass die Strafe sie alle gemeinsam treffen wird. Zuletzt ist er so fertig und eingeschüchtert, dass er nicht mehr wagt auch nur an Flucht zu denken. Es beherrscht ihn nur noch die Angst, dass ER alles beobachtet und sie wieder bestrafen wird. Ein gebrochener Mensch dem nur noch die leise Hoffnung auf ein Wunder geblieben ist.